Drücken Sie Enter, um das Ergebnis zu sehen oder Esc um abzubrechen.

Dabei sein, wenn niemand mehr dabei sein darf: Christine Reinckens, Gerichtszeichnerin und Künstlerin

Kameras sind unerbittlich. Aber sie zeigen nur das, was „vor den Kulissen“ passiert. Was er mit seinen Gästen „hinter den Kulissen“ und „abseits der Kameras“ erlebt hat, erzählt Moderator Klaus Depta hier. Zum Beispiel mit

Christine Reinckens – Gerichtszeichnerin und Künstlerin in Kassel
Wie so oft bin ich mit meinem Team auf der Suche nach der Besetzung der nächsten „Talk am Dom“-Runde. Fünf Personen wollen wir bei einer Veranstaltung präsentieren, bei einer sind wir uns noch unsicher, eine weitere fehlt völlig. „Wie wäre es mit einer Gerichtszeichnerin“, fragt mich eine Kollegin. Gerichtszeichner? Ich denke, so etwas gibt es nur in den USA. Nein, anscheinend auch bei uns. Merkwürdig. Üblicherweise sind doch Pressefotografen anwesend.

Dabei sein, wenn niemand mehr dabei sein darf

„Ja, aber wenn die hinausgeschickt werden, dann komme ich zum Zug“, sagt mir Christine Reinckens bei unserem ersten telefonischen Kontakt. Wobei sich die Frage anschließt: „Was passiert dann im Gerichtssaal, wenn die Pressefotografen draußen vor der Tür sind?“ „Dann wird das Schlimmste verhandelt, diskutiert und vor allem in allen Details dargestellt, was Sie sich vorstellen können. Oder, dann geht es Ihnen besser, was Sie sich nicht mehr vorstellen können. Dinge, die eben nicht mehr an die Öffentlichkeit herangetragen werden sollen.“ „Und dann greifen Sie zum Zeichenstift?“ Christine Reinckens bejaht.

Meine Phantasie schlägt Purzelbäume. In den Momenten, in denen zum Beispiel einem rücksichtslosen, empathielosen Mörder, der seine Opfer vielleicht sogar bestialisch gequält hat, seine Taten vorgehalten werden, greift Christine Reinckens zum Zeichenstift? Und hält das blanke Entsetzen in den Gesichtern fest? Oder, was vielleicht noch entsetzlicher wäre, die Teilnahmslosigkeit von jemandem, den gar nicht interessiert, was da über ihn und seine Taten gesprochen wird. Und wie das Gericht, stellvertretend für und „im Namen des Volkes“, sein Verhalten beurteilt. Und mit welchem Urteil das Gericht dieses Verhalten belegt.

Welcher Mensch tut sich das an?

Mehr noch als das interessiert mich der Mensch Christine Reinckens. Wie muss man gestrickt sein, um Dinge mitzuhören, die so unvorstellbar, so grausam und quälend sind, dass die Öffentlichkeit nicht „hautnah“, auch nicht in Form einer ganz normalen Berichterstattung daran teilhaben darf? Wie geht Christine Reinckens also damit um? Welche Form von Psychohygiene betreibt sie, um nicht unter der Last der

grausamen Bilder zusammenzubrechen, die bei detailgenauen Schilderungen grässlichster Unmenschlichkeit doch auch vor ihrem inneren Auge lebendig werden müssen?
„Ich konzentriere mich auf meine Arbeit, auf das, was ich sehe und mit dem Stift einfangen muss, nicht auf das, was ich höre“, sagt sie unschuldig. Klingt gut, klingt nach einem Rezept. Aber funktioniert das auch? Die Antwort kommt zögerlich. „Meistens“, sagt sie dann am Telefon. Und schiebt kurz hinterher, dass die Gerichtszeichnungen ja nur ein kleiner Teil ihrer Arbeit seien. In der Hauptsache sei sie ja Künstlerin. Den Rest heben wir uns für unser Gespräch bei „Talk am Dom“ auf. So verabreden wir uns.

Bis zur Grenze, nicht weiter

Tage später telefonieren wir noch einmal. Am liebsten würde Christine Reinckens ihre Zusage zurückziehen. Sie ist sich nicht sicher, ob sie vor einem Live-Publikum sagen kann, was sie tut, was sie bewegt. Wie es in ihr aussieht. Wie sie damit umgeht, was sie erlebt. Und wie das mit ihr umgeht. Sie wird so viel sagen und erzählen, wie es an diesem Abend gerade geht. Und ich werde ihre Grenzen respektieren. Die Grenzen einer mutigen Frau. So verabreden wir uns. Und so sehen wir uns geraume Zeit später bei „Talk am Dom“ wieder.

Die Künstleirn

Szenenwechsel, etliche Jahre später. „Ist das unsere Christine Reinckens, die du bei „Talk am Dom“ als Gast hattest?“ Eine liebe Bekannte ist am Telefon. Fast 30 Jahre hatten wir uns aus den Augen verloren, seit geraumer Zeit haben wir wieder Kontakt miteinander. „Unsere“ Christine Reinckens?
Ja, „unsere“, hier aus der Gegend. Und dann sprudelt sie los: von einer unglaublich liebenswerten Künstlerin erzählt sie, bei der sie einen Kurs besucht habe. So etwas von lieb und nett! Und so unglaublich hilfreich, anregend und vor allem einfühlsam. Gelernt habe sie bei ihr eine ganze Menge. Sie, die sie doch nie malen konnte. Aber „ihre Christine“, die sei einfach nur großartig. Jemand mit dem Blick für den gewissen Moment; jemand, der zum Ausdruck bringen kann, wie ein Mensch scheinbar selbstvergessen vor sich hinschaut; jemand, der seine Bilder so gestaltet, dass hinter der Bildoberfläche eine weitere Ebene entsteht, in die sich der Betrachter hineinversetzen kann; jemand, der Menschen in Situationen malt, in denen sie ins Leere zu starren scheinen, in Wirklichkeit aber Kraft aus ihrem Inneren schöpfen, nachtanken. So wie sie selbst, als sie bei „ihrer Christine“ einen Kurs besucht habe.

Mehrere Wahrheiten

Und das alles immer so vielschichtig sei. Weder Menschen noch Objekte besitzen eine Wahrheit. Wenn man einen Moment konserviere, ihn quasi einfriere, dann zeige man die Wahrheit dieses einen Moments. Einen Ausschnitt aus dem gesamten Sein, aber man zeige nicht das große Ganze. Niemals. Nun aber den geeigneten Moment auszuwählen, ihn festzuhalten, mit ihm zu sagen: „Schau her, so war es. Zumindest in diesem einen winzigen Moment“ – dazu gehöre eine unglaubliche Sensibilität. Ein Gespür, ein wacher Verstand und hochsensible Antennen. Antennen, die den Menschen oder Objekte wahrnehmen, für den Bruchteil einer Sekunde erfassen. Und darüber hinaus die Fähigkeit, diesen Moment festzuhalten und anderen zu vermitteln.
So in etwa meine liebe Bekannte über Christine Reinckens. Und ja, Christine Reinckens, genauer: auch diese Seite von ihr war Gast bei „Talk am Dom“.

Was soll ich da noch hinzufügen? Diese beiden Seiten einer hochsensiblen, Empathie stiftenden großartigen Künstlerin vor laufenden Kameras, ungeschnitten in etwas mehr als 20 Minuten einer interessierten Öffentlichkeit zu präsentieren – das war das Ziel meines Gesprächs mit Christine Reinckens bei „Talk am Dom“. Ob es gelungen ist? Gemessen an der Vielschichtigkeit dieser Frau? Da bin ich mir nicht so sicher. Gemessen an der konkreten Gesprächssituation? Zumindest zum Teil. Aber urteilen Sie selbst.

Kommentare

Hinterlassen Sie ein Kommentar

Datenschutz
Ich, Klaus Depta (Wohnort: Deutschland), verarbeite zum Betrieb dieser Website personenbezogene Daten nur im technisch unbedingt notwendigen Umfang. Alle Details dazu in meiner Datenschutzerklärung.
Datenschutz
Ich, Klaus Depta (Wohnort: Deutschland), verarbeite zum Betrieb dieser Website personenbezogene Daten nur im technisch unbedingt notwendigen Umfang. Alle Details dazu in meiner Datenschutzerklärung.