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Kaspar Hauser oder die Angst vor dem Fremden (26. Mai)

Niemand wusste, wer er war, niemand, woher er kam. Niemand kannte ihn. Niemand hatte ihn gelehrt zu sprechen. Selbst seine Hände und Füße koordiniert zu gebrauchen, war er wohl nicht im Stande. Am 26. Mai 1828 stand plötzlich ein junger Mann in Nürnberg auf dem Marktplatz. Geistig zurückgeblieben, zumindest nicht seines Alters gemäß entwickelt.
Von Kaspar Hauser hörte ich

zum ersten Mal als Jugendliche. Reinhard Mey hatte ein Lied über ihn gemacht. Ein Lied, das mich tief berührte. In ihm ging es um diesen jungen Mann, der aufgegriffen wurde, auf keine Fragen antwortete. Weil er eben gar nicht sprechen konnte. Nur seinen Namen konnte er stammeln, so Reinhard Mey. „Heiße Kaspar“, singt der Liedermacher und wiederholt eindringlich: „Heiße Kaspar!“
Der Schulmeister nimmt den verwilderten, schwachsinnig wirkenden Menschen bei sich auf, gibt ihm zu essen, zu trinken, unterrichtet und erzieht ihn. Und innerhalb von nur vier Jahren, so wohl die originale Überlieferung, hat der junge Mann das gesamte Wissen seiner Zeit gelernt, hat alle Defizite aufgeholt.

Größtes Medienereignis des 19. Jahrhunderts

Die Geschichte des Kaspar Hauser, wie man den Findling nannte, war eines der größten Medienereignisse des 19. Jahrhunderts. Durch ganz Europa eilte die Kunde von diesem Burschen, der in Bauernkleidung, ohne jegliche Papiere wie aus dem Nichts erschien. Menschen bestaunten ihn wie ein Tier, schreibt Reinhard Mey in seinem Lied. Nur wenige Stimmen mahnten damals, hier sei ein Verbrechen am Seelenleben eines Menschen begangen worden. Denn Kaspar war, wie er später selbst berichten konnte, wohl in völliger Isolation aufgewachsen. Kein Wunder, dass er nicht sprechen, seine Arme und Beine kaum koordiniert bewegen konnte. Niemand hatte es ihm vorgemacht. Dieser Mensch war trotz seines Alters, irgendwo zwischen 16 und 20 Jahren, völlig hilflos. Unfähig, allein zu überleben.

Erbprinztheorie

Die Vermutungen und Gerüchte schossen ins Kraut: Dass es sich bei dem jungen Mann in Wahrheit um einen badischen Erbprinzen handeln solle, der ausgesetzt worden war, um sich seiner zu entledigen – ein Gerücht, das mittels moderner Blut- und Genanalysen vor 25 Jahren erst widerlegt wurde. Und trotzdem: einen Menschen über viele Jahre ohne Kontakte gefangenzuhalten – das ist einfach abartig! Sich nicht um ihn zu kümmern – schrecklich. Medizinisch ist es kaum nachvollziehbar, dass Kaspar dies überlebte. Ungeklärt bleibt bis heute nicht nur die Frage nach dem Woher. Auch die Frage nach dem Warum bleibt unbeantwortet: Warum tun Menschen anderen Menschen so etwas an?

Homo homini lupus

Durch den Philosophen Thomas Hobbes macht seit dem 17. Jahrhundert eine Formulierung die Runde, die Hobbes bei der Betrachtung des Verhältnisses von Staatenprägte. Ausgehend davon, dass sich Staaten – quasi als Weiterentwicklung des Naturzustandes – in einem „Krieg aller gegen alle“ befänden, prägte Hobbes das Wort „Homo homini lupus“ – dem Menschen ist dem Menschen ein Wolf. Allerdings hatte Hobbes diesen Satz nur adaptiert. Bereits im 2. Jahrhundert vor Christus schrieb der der römische Dichter Titus Maccius Plautus das Original. Wörtlich übersetzt heißt es bei Plautus: „Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist.“ Etwas flüssiger übersetzt sagt Plautus also: Solange Menschen sich nicht kennengelernt haben, prügeln sie erst einmal aufeinander ein.
Schaut man sich diese Aussage genauer an, dann bedeutet sie: Die eigene Angst führt dazu, dass man das Fremde, das Unerklärliche bekämpft. Schließlich könnte es ja Dinge mit sich führen, die dem eigenen Ich gefährlich werden könnten.

Tod Kaspar Hausers

Musste deshalb Kaspar Hauser sterben? Bereits 1829 kam er mit Stichverletzungen nach Hause. Die Interpretation, Kaspar habe sich diese Verletzungen aufgrund des nachlassenden Medieninteresses selbst beigebracht, scheinen belegt zu sein. Dass er 1833 mit einer tödlichen Stichverletzung nach Hause kam, wohl eher nicht.

Bei Reinhard Mey sitzt die Familie wie gewöhnlich abends zu Tisch – außer Kaspar. Gegen alle Ordnung! verdichtet in seinem Lied die Situation künstlerisch in nahezu herausragender Weise. Mehr als ungewöhnlich. Und so heißt es bei Mey:

„Wir suchten und wir fanden ihn auf dem Pfad bei dem Feld.
Der Neuschnee wehte über ihn, sein Gesicht war entstellt,
die Augen angstvoll aufgerissen, sein Hemd war blutig und zerschlissen.
Erstochen hatten sie ihn, dort am Uttinger Feld, dort am Uttinger Feld!“

An der Stelle, an dem das Attentat auf Kaspar Hauser stattgefunden haben soll, steht heute ein Gedenkstein. Auf dem Friedhof in Ansbach, wo er am 20. Dezember 1833 begraben wurde, steht auf seinem Grabstein: „Hier liegt Kaspar Hauser, Rätsel seiner Zeit, unbekannt die Herkunft, geheimnisvoll der Tod 1833.“

Die eigene Angst

So geheimnisvoll allerdings scheint der Tod Kaspar Hausers dann doch wieder nicht zu sein. Ermordet aus Angst vor dem Anderen, dem Ungewohnten, Andersartigen. Angst, der ein Unschuldiger, ja, einer, an dem man sich auf grausame Weise versündigt hatte, zum Opfer fiel. Die Hilfe, mit der er dabei war, ein wertvoller Bestandteil der Gesellschaft zu werden, wurde durch die Angst eines einzelnen oder einiger weniger ausgelöscht. Weil der Mensch wirklich der Wolf des Menschen ist? Weil der Bauer das, was er nicht kennt, nun mal einfach nicht frisst?
Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Wenn wir beklagen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer, unsere Gesellschaft immer kälter wird, dann wird es höchste Zeit bei der eigenen Angst anzufangen: mehr für die da zu sein, die es bitter nötig haben, und die eigenen Ängste zu bekämpfen.

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

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