Corona, Dreadlocks und Haarmode: Du hast die Haare schön (20. Mai)
„Bei diesen Temperaturen lassen wir sie noch etwas länger, oder?“
Die Frage meiner Friseurin verwundert mich. Zum zweiten Mal in Coronazeiten sitze ich endlich wieder vor meiner Friseurin, die prüfend durch mein Haar streicht. Noch etwas länger? Etwas länger trage ich meine Haare, seit das Wort Corona etwas anderes bedeutet als eine mexikanische Biermarke. Ansonsten gilt: In all den Jahren vorher trage ich meine Haare immer gleich. Zugegeben, mittlerweile deutlich mehr grau als früher. Aber
immer gleich geschnitten, immer gleich lang. Und dann jetzt diese Frage?
Von Pixie Cut bis Bob
Für meine Friseurin bin ich ein ohnehin Modemuffel. Vor allem, was die Haarmode anbelangt. Als sie mir vor ein paar Jahren einen Undercut vorschlug, wurde das für sie zu einer mühsamen Angelegenheit mir zu erklären, was das denn sein sollte. Und warum ich mir das antun sollte. Wenn Begriffe wie Pixie Cut, French Cut, natürlicher Bob, Baby Braids oder gar Flipped Out Sleek durch den Salon schallen, bin ich froh, dass ich mich damit erst gar nicht auseinandersetzen muss. Denn diese Begriffe höre ich nur irgendwie zufällig – wenn die Experten auf dem Gebiet des modernen Haarschnitts ihre weiblichen Kunden beraten. Wobei man sich da aber auch schnell täuschen kann: Der Messy Pony hat wohl weitaus weniger mit dem Fußballer Lionel Messie zu tun, als ich beim Hören des Begriffs gedacht habe. Aufgeklärt hat sich das erst, als mich meine Friseurin auf eine Kundin aufmerksam machte: eine äußerst attraktive Frau, nicht zuletzt dank ihres Messy Ponytails. Okay. Mir würde das eh nicht stehen! Aber sie sah schon sehr gut aus damit. Schade, dass sie selbst das nie sieht, sondern nur andere. Es sei denn natürlich, sie verbringt Stunden vor dem Spiegel.
Mein Kopf und BAP
Wenn es das Wort „beratungsresistent“ nicht schon seit Jahren gäbe – in Sachen Haarmode könnte es mein zweiter Vorname sein. Egal, was meine Friseurin mir in den letzten Jahren auch vorgeschlagen hat – Ich habe einfach keine Lust dazu, meine Frisur zu verändern. Warum auch? Mit meinen versteckten Wirbeln schließen sich manche Modefrisuren von vornherein aus. Als Jugendlicher habe ich mir stundenlang meine natürlichen Locken weggefönt. Nein, danke! Schnell, pflegeleicht, normal aussehend – das sind meine drei Kriterien.
Ich mutmaße einmal: Die Kölner Band BAP hat bei mir viel stärkere Spuren hinterlassen, als ich mir selbst manchmal eingestehen will. Im Song „Wellenreiter“ geißeln Niedecken und Co die Leute, die immer up to date
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Christian Ziege vs. Protest
Mit Schrecken denke ich daran, wie ich vor rund 20 Jahren ausgesehen hätte, wenn ich trendy gewesen wäre. Damals kamen plötzlich Fußballer auf die Idee, ihre Haare quasi in halber Streichholzlänge zu tragen. Christian Ziege war einer der ersten in Deutschland, der so auf den Platz kam. „Ein Psychologe hatte festgestellt, dass das ganz kurze Haar zum Beispiel Fußballer viel aggressiver spielen lässt“, erklärt mir meine Friseurin damals sachkundig.
Na, wenn’s nutzt. Ziege wurde immerhin Europameister, deutscher und italienischer Meister und UEFA-Cup-Gewinner. Aber sah damals – er möge mir verzeihen, aber so habe ich das empfunden – einfach schrecklich aus. Irgendwie abschreckend. Aber wenn das Ziel war, dass seine Gegner auch abgeschreckt waren…
Dabei hatte ich eigentlich immer gedacht, es wäre genau anders herum: In den 1960er und 1970er Jahren wurden die Haare bei vielen plötzlich lang und länger. Je länger die Haare, desto größer der Protest gegen Eltern, Politik und die ganze Gesellschaft. Und umso mehr regten sich „die Alten“ auf. „Ungewaschener Gammler“ war eine der harmloseren Bezeichnungen. Protest über äußere Zeichen: Blue Jeans und eben lange Haare.
Frisur als Zeichen der Gruppenzugehörigkeit
Die Frisur als Zeichen einer bestimmte Gruppenzugehörigkeit, als Spiegel des Charakters und der gesellschaftlichen Stellung – das gab es schon zu allen Zeiten. Schillerlocken und Mozartzopf wurden sogar namensgebend. Ein Schwänzchen wie Karl Lagerfeld – das war schon etwas Besonderes, etwas Exzentrisches. Einfach etwas, das von der breiten Masse abhebt. Natürlich nur solange, wie nicht alle „das Besondere“ für sich entdecken. Dann ist es mit der Individualität schon wieder vorbei. Bis dahin gilt, was ich ansonsten eher über Musiksammlungen und Bücher sage: Zeig mir dein Haar und ich sag dir, wer du bist. Deshalb durften schon in der Antike nur freie Menschen lange Haare tragen. Sklaven wurden kahlgeschoren. Gefangene auch. Stichwort Psychofolter. Ein Thema, an das ich jetzt lieber nicht denken möchte.
Und Gott spricht: Rastaslocken und jüdische Pajess
Da sind mir die Dreadlocks der Rastafarianer lieber. Die sind übrigens biblischen Ursprungs: Im Buch Numeri, also dem 4. Buch Mose, legen die Nasiräer ein Gelübde ab, ihre Haare nicht zu scheren. Ein Zeichen dafür, dass sie Gott besonders nahestehen. Damit die langen Haare sie nicht übermäßig störten, entwickelten sie eine spezielle Flechttechnik. Rastas, die sich für die wahren Auserwählten Gottes halten, übernahmen diese Form der Frisur. Und im Zusammenhang mit relaxtem Reggae und der Assoziation „Kiffermusik“ wurden die Rastazöpfe zu einem Modetrend. Zu einem Modetrend wurden die jüdischen Schläfenlocken, die Pajess, allerdings nie. Die Grundlage dafür findet sich in der Thora und im Alten Testament im Buch Levitikus. Danach soll man sich das Haupthaar nicht rundherum schneiden. Also bleiben die Locken übrig. Ein Zeichen dafür, dass man Gottes Gebote genau befolgt und ihm folglich besonders nahe ist.
Simson vs. Anton Hofreiter?
Generell kann man sagen: Für die Menschen des Alten Testamentes waren die Haare ein Zeichen einer intakten Beziehung zu Gott, aus der man lebte und seine Kraft gewann. Sind die Haare futsch, liegt das wohl am schlechten Verhältnis zu Gott. Genau deshalb wird der biblische Simson besiegbar, nachdem man ihm seine Löwenmähne raubte.
Natürlich ist das heute alles ganz anders. Egal ob lange Haare oder extrem kurz: Der Haarschnitt sagt in unserer Gesellschaft nichts über unser Verhältnis zu Gott. Sagt nichts darüber, ob wir einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe oder einer politischen Gruppierung angehören. Vielleicht allenfalls ansatzweise: Katholische Priester und CDU-Politiker mit einer Frisur, wie der Grüne Anton Hofreiter sie trägt, kenne ich nicht. Wahrscheinlich gibt es sie auch nicht. Den Professor mit Irokesenschnitt gibt es schon. Und Personen, die sich von anderen absetzen wollen, einen hohen Wiedererkennungswert erreichen möchten, tun dies auch über ihre Frisur. Wobei: Wenn ich die Kolumne von Spiegel-Autor Sascha Lobo lese, stelle ich mir nie vor, wie er mit seinem Irokesenschnitt aussieht. Ich weiß es. Na und? An seinen Texten ändert das nichts.
Kleine Sorgen, große Sorgen. Hauptsache: Du hast die Haare schön!
Ganz ehrlich? Viele Menschen machen sich so viele Gedanken um ihr Aussehen, um ihre Frisur. Gibt es nichts Wichtigeres? Nachdenklich stimmt mich, was mir einmal ein Franziskanerpater erzählte: „Gib armen dunkelhäutigen Frauen in Brasilien jede materielle Unterstützung, die du ihnen geben kannst. Aber gib ihnen nie Geld, damit sie sich selbst etwas kaufen. Tust du das, kaufen sie nicht etwa Lebensmittel für ihre Kinder. Nein, sie gehen zum Friseur! Einmal so schön sein wie eine reiche, weiße Frau!“ Auch wenn es mir schwerfällt, diese Aussage so pauschal anzunehmen: Der Mann hatte lange genug in Brasilien gelebt und gearbeitet. Ich habe keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln.
Da bin ich lieber froh, ein Modemuffel zu sein. Vor allem ein Haar-Modemuffel. Und bin froh, dass ich diese Sorgen nicht habe. Meine Frisur macht keine politische Aussage, hat keinen Bezug zu irgendeiner politischen Gruppe und hat nichts mit meinem Glauben zu tun. Ich versuche auch so, jeden Tag ein anständiger Mensch zu sein. Allenfalls sagt meine Frisur, dass ich vielleicht etwas langweilig bin. Zumindest in Sachen Mode. Insofern bin ich froh, dass meine Friseurin mir die Entscheidung abgenommen hat: „Bei diesen Temperaturen lassen wir sie noch ein bisschen länger!“
Na gut! Wenn es dem Weltfrieden dient, dann gerne. Wenn nicht, dann auch. Abgeschnitten sind die Haare schnell. Spätestens beim nächsten Mal dann eben „so wie immer“. Hauptsache, ich fühle mich wohl, ich bin ich. Und ich komme nach Hause und meine Frau sagt: „Du hast die Haare schön!“ Was will ich mehr?
Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.
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