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Bald gibt es Zeugnisse. Brüllen oder trösten? (10. Juni)

Der ADAC geht von verstopften Autobahnen aus, die Benzinpreise steuern langsam, aber sicher wieder auf ihr Rekordhoch von anno tuck zu, eine der Lokführergewerkschaften streikt – alles deutet darauf hin, dass die Sommerferien nicht mehr allzu weit entfernt sind. Und tatsächlich: In 14 Tagen dürfen die ersten Schülerinnen und Schüler in Deutschland endlich zu Hause bleiben. Dort waren viele zwar auch schon in den letzten Monaten. Aber

selbst wenn das Home Learning eigenen Regeln gehorcht – einen Unterschied zwischen Beschulung via Bildschirm und Schulferien gibt es natürlich doch. Mit Blick auf die bevorstehenden Schulferien hätte ich neben vollen Autobahnen, steigenden Benzinpreisen und Lokführerstreik deshalb auch noch einen weiteren Punkt nennen können: Viele Schülerinnen und Schüler schlafen derzeit schlecht. Nicht etwa, weil die sommerliche Wärme den Schlaf beeinträchtigt – das sicher auch. Tatsächlich aber, weil in wenigen Tagen so etwas wie der „Tag des Jüngsten Gerichts“ erfolgt. Denn mit dem Beginn der Sommerferien wird traditionell bescheinigt, was manche Schüler längst wissen und manche Eltern befürchten: ob nämlich die im vergangenen Schuljahr erbrachten Leistungen ausreichen oder nicht. Die Angst vor dem der Moment, in dem man Mama oder Papa, im schlimmsten Fall sogar beiden, das Zeugnis unter die Nase halten muss, wiegt schwer. Verständlich, dass Schülerinnen und Schüler diesem Moment mit einem gewissen Schrecken entgegensehen.

Mathe 5 und „kreative Lösung“

Vor ein paar Jahren soll ein Zehnjähriger eine äußerst eigenwillige Lösung gefunden haben: Als er kurz vor Schuljahresende eine Fünf in Mathe geschrieben hatte, wusste er sofort: Diese Nicht-Leistung könnte seine Zulassung zu einer weiterführenden Schule erheblich gefährden. Dazu dann der zu erwartende Stress mit den Eltern – wer will das schon? Der Zehnjährige jedenfalls nicht. Und weil er schon immer prima malen konnte, setzte einfach er die Unterschrift seines Vaters unter die misslungene Mathearbeit.
Nun gilt bekanntermaßen aufgeschoben nicht als aufgehoben. Beim Zehnjährigen kam hinzu, dass ihn das schlechte Gewissen plagte. Also zeigte er sich kurzerhand selbst bei der Polizei an. Er habe etwas ganz Schlimmes gemacht. Urkundenfälschung, eben. Da kann einen das schlechte Gewissen schon mal gehörig plagen!
Gott-sei-Dank traf er auf eine Polizistin, die gelassen blieb. Heimlich rief die beim Vater an. Aber der wusste längst von der gefälschten Unterschrift. Das schlechte Gewissen aber wollte er seinem Sohn nicht ersparen.

Irgendwie eine rührende Geschichte, oder? Der Junge hat seine Lektion gelernt: Er musste die Suppe, die er sich eingebrockt hatte, wohl oder übel selbst auslöffeln. Der Vater hatte unaufgeregt reagiert und seinem Sohn eine Lektion fürs Leben erteilt. Und die Polizistin riet dem reumütigen Zehnjährigen, seine Selbstanzeige zurückzuziehen. Bei Reinhard Mey finden sie in seinem sehr beeindruckenden Lied „Zeugnistag“ übrigens eine ähnliche Geschichte.

Wie sage ich es meinen Eltern?

Wenn nun ab Ende Juni Schritt für Schritt die Sommerferien in den einzelnen Bundesländern beginnen, wird es natürlich dieses millionenfache Aufatmen geben. Nicht nur bei Schülerinnen und Schülern, sondern auch bei Lehrerinnen und Lehrern. Aber es wird auch in vielen Fällen die Frage im Raum stehen: Wie sage ich es bloß meinen Eltern? Und das möglichst so, dass die nicht gleich ausrasten. Klar: ein schulischer Misserfolg von Tochter oder Sohn zerrt heftig am Nervenkostüm der Erziehungsberechtigten. Erst recht nach diesem Schuljahr, erst recht zu einem Zeitpunkt, wo die Corona-Pandemie schon viel zu lange an den Nerven zehrt. Klar auch, dass Vater oder Mutter den negativen Emotionen am liebsten mittels Tobsuchtsanfalls freien Lauf lassen würden. Nach allem, was man darüber liest, wie die Corona-Pandemie in den Familien die Gewalt gegen die eigenen Kinder aufbrechen lässt, wäre es ja schon fast erfreulich, wenn es „nur“ bei einem Tobsuchtsanfall bliebe. Aber muss das überhaupt sein? Ich will gar nicht die Frage aufwerfen, warum Eltern bei der Ausgabe von Zeugnissen überhaupt aus allen Wolken fallen können. Schon in der Fahrschule lernt jeder, den Verkehr weiträumig zu beobachten und früh genug auf die Bremse zu treten. Wer sich wundert, dass er „plötzlich und unerwartet“ durch eine Wand zum Stehen kommt, hat schon vorher etwas falsch gemacht. Nein, ich habe etwas anderes im Blick:

Brüllen hilft nicht

Ein Bekannter, den ich wegen seiner unglaublichen Ruhe bewundere, sagte einmal zu mir: „Na klar, kann ich schreien. Und glaube mir: Wenn es nutzen würde, würde ich das tun. Stundenlang! Aber solange ich durch Brüllen, Schreien und Toben einen Sachverhalt oder eine Situation eben nicht ändern kann, solange kann ich es auch lassen.“

Auch dann, wenn die Nerven eh schon blank liegen? Und wenn das Zeugnis den Misserfolg des ansonsten doch hoffnungsvollen Nachwuchses schwarz auf weiß zu Tage treten lässt? Ja, auch dann ändert ein Brüllen und Toben nichts mehr. Und nur am Rande: Wie sieht es eigentlich mit den Nerven der Schülerinnen und Schüler aus, denen bescheinigt wird, dass das, was sie gegeben haben, einfach nicht gereicht hat? Brüllen würde den einstmals so hoffnungsvollen Nachwuchs noch kleiner werden lassen. Er würde sich noch „bescheidener“ fühlen, als er das jetzt schon tut. Das aber hilft niemandem. Außer dass der Brüller sich vielleicht besser fühlt. Na toll! Brüllen, um sich auf Kosten von Tochter oder Sohn besser zu fühlen? Nein, danke! Ohnehin gilt für mich der Grundsatz: Wer schreit, hat Unrecht. Oder zumindest keine überzeugenden Argumente.

Trost statt brüllen

Deshalb mein Vorschlag: Auch auf ein mieses Zeugnis kann man gelassen reagieren. Es verbietet nicht, Tochter oder Sohn tröstend in den Arm zu nehmen – im Gegenteil. Denn wer versagt hat, braucht Trost am Nötigsten. Und wenn sich die Gemüter erst wieder beruhigt haben, denkt man am besten gemeinsam darüber nach, was im nächsten Schuljahr besser laufen sollte. Und wie man das anstellt. Was natürlich nicht ausschließt, dass man sich selbst eingestehen muss: Ich bin ein fauler Hund gewesen. So geht es wirklich nicht. Und dass der feste Vorsatz da ist: Dieses Verhalten werde ich für die Zukunft ändern.

Zumindest bin ich dankbar dafür, dass ich in Situationen, die sich mir als größte Niederlagen darstellten, auf Trost und Verständnis gestoßen bin. Vielleicht stelle ich mir deshalb ein gelingendes Zusammenleben von Menschen eben genauso vor: einstehen für das, was man angestellt hat, es bereuen dürfen, versuchen, seine Schuld loszuwerden und letztlich mit so etwas wie grenzenlosem Verzeihen belohnt zu werden. Klingt gut? Ist es auch. Auch wenn es nicht alle Probleme löst. Denn die Mathearbeit des Zehnjährigen und der Zeugnisvermerk „nicht versetzt“ lassen sich auf diese Weise nicht aus der Welt schaffen. Mit Toben und Brüllen aber auch nicht. Also lassen Sie’s!

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

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