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Protestsongs. 50 Jahre Gefängnisaufstand von Attica (9. September)

43 Tote, über 80 Verletzte – das ist die Bilanz eines Gefängnisaufstandes, der heute vor genau 50 Jahren die amerikanische Öffentlichkeit in Atem hielt. In der Attica Correctional Facility, einem Hochsicherheitsgefängnis für besonders gefährliche männlicher Strafgefangener, hatten diese Wächter in ihre Gewalt gebracht. Nach fünf Tagen endet der Aufstand in einem Blutbad: Weil die Sicherheitskräfte wahllos in die Menge schießen, sterben elf Wächter und 32 Gefangene. An dieser Stelle, nach ein paar nackten Zahlen und Fakten, könnte dieser Text enden. Aber es gibt Gründe, warum der Text an dieser Stelle erst so richtig beginnt.

Umgang des Staates mit seinen Gefangenen

Natürlich könnte man das Massaker als bedauerliche Episode abtun. Schließlich saßen die Gefangenen aus guten Gründen hinter Gittern. In solch einer Situation zu protestieren – das geht gar nicht. Und natürlich könnte man darauf hinweisen, dass Gewalt nun einmal immer Gegengewalt erzeugt: Wären die Insassen nicht in ihrem früheren Leben gewalttätig gewesen, hätten sie jetzt, im Knast, nicht auch noch ihre Wärter als Geisel genommen, dann hätte es keine Verletzten und erst recht keine Toten gegeben. Das alles wäre sogar richtig. Warum also noch mehr reden bzw. schreiben? Vielleicht, weil das alles nicht ausreicht, um einen brutalen Umgang des Staates mit seinen Gefangenen zu rechtfertigen.

John Lennon – Attica State

Ein ähnliches Empfinden muss auch Ex-Beatle John Lennon gehabt haben, als er den Song „Attica State“ schrieb. Erstmals öffentlich präsentierte Lennon den Song am 10. Dezember 1971 bei der so genannten „John Sinclair Freedom Rally“: ein Konzert in der Universität von Michigan, für das Lennon und Yoko Ono eigens eine Band zusammenstellten, um gegen Ungerechtigkeiten in den USA zu demonstrieren. Unter anderem auch gegen die Inhaftierung des Schriftstellers John Sinclair, der dummerweise ein paar Joints ausgerechnet an Polizeifahnder verkaufte und dafür mit einer Haftstrafe von sagenhaften zehn Jahren belegt wurde. Der Song „John Sinclair“ hat Erfolg: Drei Tage, nachdem die Lennons ihn vor 15.000 Konzertbesuchern gespielt haben, hebt der oberste Gerichtshof des Bundesstaats Michigan das Urteil auf und entlässt Sinclair in die Freiheit. Auch mit „Attica State“, dem Protest gegen die Vorkommnisse in der Attica Correctional Facility, haben die Lennons möglicherweise Erfolg – dazu später mehr.

Tom Paxton – The Hostage

Mit ihrem musikalischen Protest bleiben John Lennon und Yoko Ono nicht allein. Bereits 1972 veröffentlicht Tom Paxton, ein bei uns leider nicht so bekannter US-amerikanischer Schöpfer Hunderter von Folksongs, auf seinem Album „Peace Will Come“ den Song „The Hostage“. In ihm schlüpft er sehr ergreifend in die Rolle eines direkt Betroffenen des Gefängnisaufstandes und kritisiert den zuständigen Gouverneur als Hauptschuldigen.

10cc – Rubber Bullets

Auch Lol Creme, Kevin Godley, Eric Stewart und Graham Gouldman aus dem englischen Manchester, besser bekannt als 10cc, greifen 1973 mit ihrem Song „Rubber Bullets“ den Gefängnisaufstand in Attica auf. Der Song verweist auf einen fiktiven Schwarz-Weiß-Film, dessen Handlung deutlich vor dem angesprochenen Gefängnisaufstand spielt, und karikiert die üblichen Filmdarstellungen über Gefängnisse. Weil die britische Armee Anfang der 1970er Jahre Gummigeschosse („Rubber Bullets“) erfindet und sie im Bürgerkrieg in Nordirland einsetzt, weigern sich verschiedene Radiostationen im UK – übrigens nicht (!) die BBC – den Song zu spielen. Der Hinweis der Band, der Song handele vom Gefängnisaufstand in Attica, findet dabei wenig Gehör.

Bob Dylan – Joey

Drei weitere drei Jahre später, 1976, nimmt Bob Dylan auf seinem Album „Desire“ mehrere Einzelschicksale von Gefängnisinsassen in den Blick. Am bekanntesten wird zwar Dylans Protest gegen die Inhaftierung des schwarzen Boxers Rubin „Hurricane“ Carter. Im Song „Joey“, dem Eröffnungssong der zweiten LP-Seite, reflektiert Dylan aber die Vollzugspraxis auch in der Attica Correctional Facility. Nicht von ungefähr ist dieser Song mit über elf Minuten gleichzeitig auch der mit Abstand längste Song des Albums.

Härteste Haftbedingungen

Mit ihrem musikalischen Engagement stellen die Künstler (und später mehrere Filmproduzenten) eine gewisse Solidarität mit den Gefangenen in der Attica Correctional Facility her. Dabei geht es – abgesehen von Dylans „Hurricane“ nicht um die Frage, ob jemand zu Recht inhaftiert ist oder nicht. Tatsächlich geht es um die Zustände, unter denen die Menschen inhaftiert sind. So wurden die Inhaftierten der Attica Correctional Facility zwischen

14 und 16 Stunden täglich in ihren kleinen Zellen eingesperrt, durften lediglich einmal pro Woche duschen. Seife und Toilettenpapier waren auf ein Stück bzw. eine Rolle rationiert – pro Monat! Körperliche Züchtigung und rassistische Beschimpfung gehörten zum Programm. Die Gemeinschaftsräume waren mit hochwirksamen Tränengasanlagen ausgestattet.

Beschneidung der Grundrechte

Verpflegung und medizinische Versorgung waren schlecht. Möglichkeiten zur Ausbildung, normalerweise Hauptbestandteil bei der Resozialisierung von Straftätern, gingen in der Attica Correctional Facility gegen Null. Sogar die Nutzung von Literatur war massiv beschränkt. Die Grundrechte wurden dahingehend eingeschränkt, dass eingehende Post gelesen und ggf. zensiert wurde. Besuche waren extrem begrenzt. Besucher wurden zudem massiv unter Druck gesetzt bzw. schikaniert.
Dass allerdings Strafgefangenen in den USA das, was nach unserer Vorstellung Grundrechte sind, aberkannt wird, wurde bei der Zulassung zu den Präsidentschaftswahlen im Herbst 2020 noch einmal deutlich und „im alten Europa“ staunend zur Kenntnis genommen.

Überbelegt

Als das Hochsicherheitsgefängnis in Attica in den 1930er Jahren errichtet wurde, war es für eine Kapazität von etwa 1600 Inhaftierten ausgelegt. Zum Zeitpunkt des Aufstandes im Jahr 1971 befanden sich jedoch mehr als 2000 Menschen an diesem Ort, was die ohnehin sehr harten Haftbedingungen noch verschärfte. Ohnehin waren rund 80 Prozent der Inhaftierten Latinos und Schwarze. Das Wachpersonal jedoch bestand in der Regel weder aus Schwarzen, noch aus Spanisch sprechenden Personen.

Protest und Verhandlungen

Genau gegen diese unmenschlichen Bedingungen protestierten die Gefangen der Attica Correctional Facility. Unter ihnen machte der Slogan die Runde, dass sie nicht wie Tiere behandelt werden wollten und dass es besser sei, tot zu sein, als unter diesen Umständen zu leben. Konsequent forderten sie ein Ende der Zensur, Möglichkeiten zur Ausbildung, eine verbesserte Gesundheitsversorgung sowie die Einstellung von Wächtern, mit denen sie Spanisch sprechend konnten.
Monatelang verhandelte die Attica Liberation Front, eine Vertretung der Gefangenen. Im Mai 1971 überreichte sie dem Anstaltsleiter einen Forderungskatalog, erhielt jedoch lediglich die Antwort, dass Reformen Zeit benötigten. Die Antwort erfolgte nicht persönlich, sondern über Tonband!

Tod George Jacksons

Am 21. August 1971 erfuhr die ohnehin explosive Stimmung in der Attica Correctional Facility eine enorme Zuspitzung. An diesem Tag wurde George Jackson bei einem Fluchtversuch aus dem California State Prison erschossen. Jackson war schwarz, bekanntermaßen militanter Aktivist der Black Panther Bewegung und hatte als Autor in verschiedenen Schriften einen gewaltsamen (!) Umsturz gefordert. Als Reaktion auf seine Ermordung trugen die Häftlinge in der Attica Correctional Facility schwarze Armbinden und traten in einen Hunger- und Schweigestreik. Als angeblich einer der Wärter gegen einen Inhaftierten körperliche Gewalt anwandte, brachte dies das Fass zum Überlaufen. Innerhalb kürzester Zeit übernahmen etwa 1200 Inhaftierte die Kontrolle über etwa die Hälfte des Gefängnisses und machten ihre Wärter zu Geiseln. „In Attica kommt man an einen Punkt, an dem man nicht mehr über die Konsequenzen nachdenkt“, wird einer der Aufständler später zitiert. Was wohl bedeutet: Wenn ein Mensch glaubt, nichts mehr zu verlieren zu haben, ist ihm auch die Wahl seiner Mittel egal.

Friedliche Geiselnahme

Allerdings bliebt die Geiselnahme entgegen aller Erwartungen friedlich. Bewusst behandelten die Geiselnehmer die Gefängniswärter gut, übten keinerlei Vergeltung für die selbst erlittenen Repressalien aus. Im Gegenteil: Um die Geiseln möglichst wirksam vor eventuellen Anschlägen aus den eigenen Reihen zu schützen, stellten die Geiselnehmer eine Art Schutzwache auf. Inhaftierte sprachen später von einer erstaunlichen Gemeinschaft, die sich über alle Rassenschranken hinweg unter den Häftlingen gebildet hatte.

Reaktion: blanke Gewalt

Der Staat reagierte mit blanker Gewalt. Als Hauptgrund diente die Behauptung, der Gefängnisaufstand von Attica habe als Fanal für weitere Aufstände in anderen Gefängnissen nach sich ziehen können. Nach mehrtägigen Verhandlungen stürmten mit Maschinenpistolen, Gewehren und Tränengas ausgestattete Soldaten das Gefängnis und schossen in die Menge, in Zellen auch gezielt auf Menschen in den Zellenbetten. Dort befanden sich jedoch auch mehrere der als Geiseln festgesetzten Wärter, die auf diese Weise ums Leben kamen. Genau diese Todesfälle schob die Gefängnisleitung nach Niederschlagung des Aufstandes den Häftlingen in die Schuhe. Doch da die Wärter nachweislich an Schussverletzungen gestorben waren, die Häftlinge keine Waffen – außer den Gummiknüppeln der Wärter – hatten und entsprechend gegen die Soldaten aussagten, war in diesen Fällen die Schuldfrage schnell geklärt.

Entschädigung

Über 30 Jahre nach dem Massaker in der Attica Correctional Facility zahlte der Staat New York eine Entschädigung an die Gefangenen, die das Massaker überlebt hatten. Bis dahin war die Diskussion um gleiche Rechte, eben auch die von Gefangenen, immer wieder neu entfacht worden – nicht zuletzt möglicherweise auch ein Verdienst der Künstler, die sich angefangen bei John Lennon und Yoko Ono in ihren Songs immer wieder gegen Ungerechtigkeiten auch im Strafvollzug gewandt hatten. Eine Rolle dürfte dabei auch gespielt haben, dass sich die Gewalt in Attica hauptsächlich gegen Latinos und Schwarze richtete. Damit war wieder einmal die Rassenfrage thematisiert.

Ein Problem, das bis heute in den USA nicht hinreichend gelöst zu sein scheint. Weil die Benachteiligung von Schwarzen weiterhin als Konflikt schwelte, prangerte der Rapper Nas 1996 zum 25. Jahrestag des Gefangenenaufstands von Attica diese Problematik in seinem Song „If I Ruled The World (Imagine That)“ noch einmal an. Heute, weitere 25 Jahre später, wird immer deutlicher: Bis die Tatsache, dass alle Menschen gleich sind und dass ihnen daher dieselben Rechte zustehen, in den Köpfen aller Menschen angekommen ist, wird vermutlich noch eine lange Zeit vergehen. Der Gefängnisaufstand in der Attica Correctional Facility, der heute vor 50 Jahren begann, ist und bleibt ein Mahnmal dafür. Nicht nur in den USA, sondern überall in der Welt.

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

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