Juri Gagarin – erster Mann im Weltall (vor 60 Jahren) (12. April)
Tatsächlich nachempfinden kann ich es nicht. Schließlich entstammt dieses Ereignis „einem anderen Leben“, einer ganz anderen Zeit. Und viel zu viel ist seitdem passiert. Vieles, was dem Motto „größer, höher, weiter“ entspricht. Zumindest in Filmen kämpfen Menschen schon lange mit Außerirdischen um die Vormachtstellung im Weltall. Und selbst in der Realität sind kühne Menschheitsträume bereits auf dem Mars angekommen. Der Tag, an dem tatsächlich ein Mensch nach – derzeit mindestens – sieben Monaten Flug die Oberfläche des Mars betritt und dann vielleicht Neil Armstrong zitiert, etwas vom kleinen Schritt eines Menschen und großen Schritt der Menschheit erzählt, rückt immer näher.
Juri Gagarin – erster Mensch im Weltall
Da mutet verhältnismäßig klein an, was heute vor 60 Jahren passierte. Und doch ist es im Grunde genommen auch heute noch eine Sensation. Damals war es sogar ein einschneidendes Ereignis. Denn damals erfuhr Welt:
„Vom Raumschiff Wostok wurde gemeldet um 9.22 Uhr Moskauer Zeit, dass sich der Kosmonaut Juri Gagarin mit seiner Raumkapsel über Südamerika befinde. Er teilte mit, der Flug verlaufe normal, er fühle sich gut.“
Juri Alexejewitsch Gagarin wird damals als „Held der Sowjetunion“ gefeiert – zu Recht! Erstmals fliegt ein Mensch durch das Weltall. Erstmals kann ein Mensch Dinge sehen, die niemals jemand vor ihm gesehen hat. Sensationell. Wie alles, was jemand zum ersten Mal macht.
Bedeutung 1960
Einem „Menschen von heute“ fehlt das Lebensgefühl der damaligen Zeit. Und so muss er sich zumindest mit dem Kopf vergegenwärtigen: Erst fliegt am 4. Oktober 1957 das erste von Menschen, von den Sowjets gebaute Objekt ins All. Das löst den Sputnikschock aus. Amerikanern und dem gesamten Westen stehen die Haare zu Berge. „Sputnikschock“ – ein Wort, das im Westen geprägt wird. Deutlicher kann man kaum ausdrücken, dass der Westen mitsamt seinem gesellschaftlichen System zweitrangig ist, im Griff zu den Sternen abgehängt – geht es noch deutlicher? Oh, ja, es geht. Indem die Sowjets noch eins draufsetzen: Als vier Jahre später der erste Mensch ins All fliegt, ist es wieder ein Mann aus der Sowjetunion. Der Kampf um die Vorherrschaft bei der Eroberung des Alls scheint entschieden. Der Westen landet abgeschlagen auf den hinteren Plätzen.
Aber immer noch kann man eins draufsetzen. Das tut Gagarin später mit
ein paar Wörtern, einem Satz: „Ich bin in den Weltraum geflogen, aber Gott habe ich nicht gesehen.“
Was so banal wirkt, ist in Wahrheit so etwas wie der konsequente Todesstoß nun auch für die Ideologie des Westens. Der ist damals noch stark christlich geprägt. Übersetzt man Gagarins Worte, so müssten die lauten: „Der, von dessen Lehren ihr eure Werte und eure Moralvorstellungen ableitet, der, auf den ihr eure Verfassungen aufbaut, der sogar auf den Dollarnoten mit in God we trust benannt wird – den habe ich hier, bei meinem Flug durchs All, durch den Himmel überhaupt nicht gesehen.“ Das ist die Wirkung, die Juri Gagarins legendärer Satz haben soll. Vernichtend!
Propagandafeldzug gegen den Westen
Heute wissen wir es besser: Gagarin hat diesen Satz nie gesagt. Die Propaganda legt ihm den Satz in den Mund. Aber trotzdem wurde dieser Satz damals für bare Münze genommen, wird auch heute immer noch als Kronzeuge für die Nicht-Existenz Gottes verwendet. Manch einer sieht darin den Beweis: Gott ist nicht da oben! Stimmt ja auch! Gott gibt’s also gar nicht? Hmmm. Für Mr. Spock wäre das unlogisch. Und selbst die Sowjet-Propaganda behauptet ja nur, Gagarin habe Gott nicht gesehen! Dass er nicht existiert – das ging wohl selbst den Propagandisten zu weit. Vielleicht wäre das auch zu direkt gewesen, um Wirkung zu zeigen. Zu platt, um sich nicht dagegen zu wehren. So war die Botschaft schleichender, zersetzender.
Drehen wir die Geschichte einmal um: Was wäre denn gewesen, wenn Gagarin da oben den lieben Gott getroffen hätte? Hätte der auf Wolke sieben gesessen? Mit langem Bart und weißen Haaren? Und hätte er Gagarin zugewunken! „Hey, Juri, hier bin ich! Klasse, dass du mal vorbeischaust! Ist ja auch ziemlich einsam hier!“ Und vielleicht: „Hoffentlich kommt mal öfter einer von euch vorbei, wo ihr das ja jetzt gelernt habt. Am besten kommt ihr zu zweit. Dann sind wir zu dritt und können mal eine gepflegte Runde Skat spielen. Wofür lasse ich euch sonst so nette Spiele erfinden…“
Dass Göttliche an Gott
Was für ein Blödsinn! Wäre Gott tatsächlich der alte Mann, der auf Wolke sieben sitzt – ja, dann wäre er eben der alte Mann auf Wolke sieben. Aber kein Gott! Jemand, der sich mit unserem bisschen Verstand, mit unseren Sinnen voll und ganz wahrnehmen lässt – das ist doch kein Gott! Jemanden, der sich von uns im wahrsten Sinne des Wortes „be-greifen“, also mit unserem Verstand „er-fassen“ ließe (schon wieder so ein tiefsinniges Wort), würden wir doch nicht als Gott bezeichnen. Ratzfatz wäre dieses Etwas entzaubert! Er wäre alles. Aber ein Gott? Niemals!
Das macht ja gerade das Göttliche, das Übermenschliche aus: dass wir ihn nicht vollständig erfassen können. Und wenn ich schon „ihn“ sage: Auch das gehört zu uns: dass wir einen Gott, den wir erst dadurch als göttlich anerkennen, dass er sich uns entzieht, bei allen Beschreibungsversuchen nicht anders denken und beschreiben können, als unser Verstand es zulässt, wir also in anthropomorphen Bildern von Gott sprechen müssen. Anders können wir gar nicht. Also beschreiben wir ihn als Mann. Gott als Frau zu beschreiben, war über Jahrtausende undenkbar. Und mehr als Mann und Frau gab es nicht, wenngleich sich manche Leute da heute nicht mehr so ganz sicher sind. Wie also sonst?
Ich glaube nur, was ich sehe
Ich muss immer ein wenig schmunzeln, wenn Menschen sagen: Kann ich nicht sehen, also existiert es nicht. Shakespeare – Sie wissen schon: „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als sich eure Schulweisheit träumen lässt“ – war da schon weiter. Kennen Sie die Zeichnung von der alten, hässlichen Frau, die, wenn man sie aus einem etwas anderen Blickwinkel, aus anderer Perspektive betrachtet, plötzlich zu einer jungen, hübschen Frau wird? Wie oft mühen sich Menschen darum, die junge Frau zu sehen, aber es gelingt ihnen nicht. Sehe ich nicht – existiert nicht?
Oder nehmen Sie den Mann mit Vollbart und buschigen Augenbrauen, ein Schattenriss von Siegmund Freud. Die beliebte Frage, woran der Psychoanalytiker denkt, beantwortet der Perspektivwechsel blitzschnell: Betrachten Sie das Bild aus einem anderen Blickwinkel, entdecken Sie da, wo sich unter dem Schädel Freuds der Frontallappen befinden könnte, eine nackte Frau. Sehe ich nicht – gibt es nicht?
Was sehen Sie? Einen Kelch oder zwei Gesichter? Schwarze Katzen oder weiße Tauben? Ein Gesicht oder eine Landschaft? Es gibt Hunderte von Kipp- oder Drehbildern, bei denen die meisten Menschen nur eine dieser Darstellungen sehen. Erst auf den zweiten, manchmal dritten, vierten oder mühevollen zehnten Blick gelingt es, die zweite Darstellung zu entdecken. Die war aber auch vorher schon vorhanden. Sehe ich nicht – existiert nicht?
Wer so argumentiert, macht sich, sein bisschen Verstand und seine eingeschränkte Sichtweise zum Nabel der Welt. Solange, bis er in einem günstigen Moment mehr sieht. Deshalb ist er so großartig und richtig, Shakespeares Satz: Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde… Weil es eben unglaublich viele Dinge gibt, die wir nicht sehen, die aber doch vorhanden sind.
Und nicht nur Dinge: Wenn eine Frau entdeckt, dass sie von ihrem Mann schon lange betrogen wird, leidet sie, hat sie – sehr allgemein formuliert – negative Gefühle. Gefühle? Deren Auswirkungen, deren Äußerlichkeiten kann ich sehen, aber die Gefühle selbst? Kann ich nicht sehen – existieren nicht? Käme wirklich irgendjemand auf die Idee, Gefühle zu negieren? Wohl kaum. Wirklich nachweisen lassen sich Gefühle aber erst mit Hilfe der Neurowissenschaften. Mehr forschen, mehr nachdenken – mehr entdecken, mehr wissen, mehr sehen, so die einfache Formel. Mit „kann ich nicht sehen – gibt es nicht“ hätte es selbst die Entwicklung in den Neurowissenschaften nicht gegeben. Gäbe es mit dieser Lebenshaltung des Nicht-Denkens überhaupt eine Weiterentwicklung? Wohl kaum.
Gott habe er nicht gesehen, legt man Juri Gagarin in den Mund! Danke, liebe Propagandamacher! Hätte Gagarin behauptet, Gott gesehen zu haben, gerade dann gäbe es ihn für mich nicht. Dann gäbe es da oben vielleicht irgendwen – aber als Gott wäre er für mich tot. Das Gegenteil dadurch beweisen lässt sich übrigens genauso wenig: Gagarin hat Gott nicht gesehen – also gibt es ihn? Nicht nur Mr. Spock würde sagen: „Auch das ist unlogisch.“ Aber ausschließen, dass es Gott nicht gibt? Mit welcher Berechtigung?
Obwohl er ideologisch behaftet war, bleibt der erste Weltraumflug eines Menschen, heute vor 60 Jahren, ein einschneidendes Ereignis. Und die Frage, ob es einen Gott gibt, bleibt zumindest eines: faszinierend.
Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.
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