Drücken Sie Enter, um das Ergebnis zu sehen oder Esc um abzubrechen.

Nena, Querdenker, der liebe Gott… und Hank (24. März)

Was wäre, wenn ich Nena einmal träfe? Als junger Pubertierender war das eine mehrfach wiederkehrende Frage. Denn ich war begeistert von der damals noch jungen Frau, von der Sängerin in extremen Mini, die mit der Idee von ein paar Luftballons einen Krieg verhindert wollte. Erfrischend naiv war das. So wie anfangs die gesamte deutsche Welle. Aber als diese Welle sich am höchsten aufbäumte,

tat sie das, was alle Wellen tun: Sie brach. Dabei verlor sie das Erfrischende. Und war über weite Strecken nur noch naiv.

Ob das bei Nena auch so gewesen ist, kann ich nicht beurteilen. Zu verstellt war mein Blick für sie. Lange hat mich nicht losgelassen, wie sie in der ZDF-Hitparade eine Lobeshymne des damaligen Moderators Dieter Thomas Heck parierte: „Legst du gleich wieder deine Hand auf mein Knie?“ Wahrscheinlich hat sich die Szene ganz anders zugetragen, existiert in dieser Form nur in meiner Erinnerung. Und in der meines Freundes Hannes. Im Gegensatz zu mir mochte der Nenas Musik noch nie. Und Gabriele Susanne Kerner aka Nena daher auch nicht. Aber was die Episode mit Dieter Thomas Heck anbelangt, hatten wir dieselbe Erinnerung. Vielleicht haben wir sie uns auch gegenseitig eingeredet, bis sie ausschließlich in unseren Köpfen zur Realität wurde. Wer weiß.

„Hier Hank, hast du bei SPON die Story mit Nena gelesen?“, fragt mich Hannes gestern Abend am Telefon. Eigentlich heißt er Johannes, hatte aber schon in der Grundschule seinen Vornamen auf Hannes eingekürzt. In der Pubertät nannte er sich plötzlich Hank und kam nie wieder davon los. Seit der Grundschule kannten wir uns. Und mir war klar: Wenn Hank mich anruft und dabei das Stichwort Nena fällt, wird es kritisch. Nein, die Veröffentlichung gestern bei Spiegel Online hatte ich nicht gelesen.

„Musst du auch nicht. Alles wieder nur, um in die Köpfe der Leute zurückzukommen. Die neue Platte scheint sich nicht zu verkaufen.“

Woher will Hank das wissen? Zugegeben: Hank ist mit den Zusammenhängen, die er herstellt, manchmal ein bisschen schlicht. Manchmal hört er nur das Gras wachsen, wie man so sagt. Manchmal aber hat er auch recht. Manchmal zählt er einfach nur eins und eins zusammen. Und gebraucht seinen gesunden Menschenverstand. Was aber nicht gleichbedeutend damit ist, dass er dann auch recht hat!

„Meinst du wirklich?“

„Ich habe sie zuletzt bei Ina Müller gesehen. Schon ne Weile her. Der Song war nicht schlecht. Auf Englisch wäre er besser gewesen. Da versteht man wenigstens nicht sofort jedes Wort!“

Hank schließt oft von sich auf andere. Dass er nicht sofort jedes Wort eines englisch gesungenen Songs versteht, mag sein. Dass es aber Menschen gibt, für die es keinen Unterschied macht, ob sie einen Song auf Englisch hören oder auf Deutsch, kann er sich nicht vorstellen.

„Deshalb rufst du mich an?“

„Nee, weil die sich jetzt mit den Querdenkern solidarisiert. Die da alle zur Anti-Corona-Party nach Kassel gefahren sind. Und geifernd ihre Wut über die Beschränkungen rausgehauen haben.“

Wie gesagt, Hank ist manchmal etwas einfach. Da nehmen 20.000 Menschen zum größten Teil eine Fahrt quer durch die Republik in Kauf, um ihre Meinung kundzutun. Dass es dabei dann nicht emotionslos bleibt, kann man nachvollziehen. Irgendwie.

„Ach hör auf, du wolltest Nena ja auch immer gerne mal…“ um den nachfolgenden Worten ein höheres Gewicht zu verleihen, macht Hank eine dramatische Pause. „… deine Hand aufs Knie legen.“

Wie Hank „Knie“ betont und langzieht, gefällt mir gar nicht. Der Raum für Assoziationen wird an dieser Stelle eindeutig zweideutig.

„Nein, wollte ich nicht.“

Vor meinem inneren Auge sehe ich förmlich, wie Hank abwinkt.

„Egal. Wenn du den Artikel eh nicht gelesen hast… Musst du auch nicht. Die Kommentare auch nicht. Im Grunde gibt es

zwei Gruppen von Posts: Die einen bezeichnen Nena als Kerze auf der Torte, die noch nie besonders hell gebrannt hat. Die anderen sind Nena-Fans und prügeln auf die Gegner ein. Von wegen Meinung versus Gesinnung. Keine Argumente, nur hau drauf. Musst du nicht lesen. Einer allerdings hat total ein Rad ab: Der hat seine Nena-Platten in die Tonne geworfen. Das darf man mit Platten nicht machen! Angeblich aus Verärgerung über ihre Sympathie mit den Querdenkern. Aber der entlarvt sich dann selbst: schreibt, er hätte eh schon seit Jahren keinen Plattenspieler mehr. Meiner Meinung nach: moderne Bücherverbrennung!“

Hank trägt dick auf. Aber gut, wenn es seine Meinung ist… Aber lesen? Nee, das muss ich wirklich nicht. Hank nölt noch kurz über Querdenker: dass Denken ein Prozess sei, dessen Ergebnis immer am Ende steht. Dass man aber nicht ans Ende kommt, wenn man querdenkt, immer nur in die Breite, also von links nach rechts und wieder zurück, also irgendwie kein Stück voran, dem ich dann wiederum als falscher Auffassung von querdenken widerspreche. Und schon ist das Telefonat auch wieder beendet.

Dummerweise bleibt in mir den gesamten Abend, weit über das Telefonat hinaus, die alte Frage wach: Was wäre, wenn ich Nena einmal träfe? Dazu muss ich erst einmal selber nachlesen, was sie gesagt hat. Also schaue ich doch im Spiegel nach und finde da außerdem, völlig losgelöst vom eigentlichen Aufhänger, den Hinweis auf einen Instagram-Post der Sängerin aus dem vergangenen Jahr. Wörtlich zitiert der Spiegel: „Ich habe meinen tiefen Glauben an Gott. Daher kommt mein Vertrauen ins Leben. Und ich habe meinen gesunden Menschenverstand, der die Informationen und die Panikmache, die von außen auf uns einströmen, in alle Einzelteile zerlegt.“ Das ermögliche der Sängerin, sich „nicht hypnotisiert von Angst in die Dunkelheit ziehen zu lassen“. (Danke Kassel. Nena solidarisiert sich mit Querdenkern, in: Spiegel.de vom 23.3.2021, zitiert nach https://www.spiegel.de/kultur/saengerin-nena-solidarisiert-sich-mit-querdenkern-danke-kassel-a-fe88d3b3-67fb-4868-bc4d-1a5f5bcd18c6, letzter Abruf am 24.3.2021.)

Das finde ich gut! Sich nicht von Angst hypnotisiert in die Dunkelheit ziehen zu lassen, ist eine ausgesprochen sinnvolle Lebenseinstellung. „Angst verleitet uns zu beängstigenden Entscheidungen“, habe ich irgendwo einmal gelesen. Und allgemein bekannt ist die Formulierung: „Angst ist immer ein schlechter Ratgeber.“ Das würde ich sofort unterschreiben. Denn Angst lähmt das Denken. Und der klare Kopf, der bei Sachentscheidungen unbedingt gefordert ist, wird durch Angst oft am richtigen Funktionieren gehindert. Bei anderen Emotionen kann das natürlich genauso sein.

Andererseits: gesunder Menschenverstand? Was ist das? Wenn ich auf einem Berg stehe und bis zum Horizont sehe, also alles erfasse, was mein Auge und mein Gehirn in diesem Moment erfassen können, muss ich mir doch immer bewusst sein, dass es hinter dem Horizont noch mehr gibt. Zumindest mehr, als ich mit „meinem gesunden Menschenverstand“ erfassen kann. Wobei die Betonung auf „meinem“ liegen muss. Jemand, der einen anderen Standpunkt einnimmt, vielleicht einen Meter höher auf dem Berg steht, sieht mit seinen anderen, besseren Möglichkeiten der Wahrnehmung, also „seinem gesunden Menschenverstand“, auch ein paar Meter weiter als ich. Wenn er nicht gerade so hoch gekrabbelt ist, dass er über den Wolken steht und von dem da unten auf der Erde gar nichts mehr sieht, weil die Wolken die Sicht darauf versperren.

Was für die Aussicht von einem Berg gilt, gilt für alle Bereiche des Lebens. Und weil wir uns in der Menschheitsgeschichte weiterentwickelt haben, alles zu komplex und kompliziert geworden ist, als dass der jeweils individuelle gesunde Menschenverstand im angesprochenen Sinn in jeder Situation alles vollständig erfassen kann – genau dafür haben wir Experten. Die beschäftigen sich mit bestimmten Themen intensiver als andere, klettern, um im Bild zu bleiben, etwas höher auf einen ganz bestimmten Berg, sehen mehr und können manches anschließend besser einschätzen und beurteilen als die, die nicht auf diesen Berg gestiegen sind. Bei der einen Sorte Experten mag das der Gesang und die Unterhaltung sein, bei anderen eben die wissenschaftliche Forschung. Ob ein Wissenschaftler begeisternd singen kann, sei einmal dahingestellt. Das erwarte ich auch gar nicht von ihm. Das muss er auch gar nicht erst versuchen. Das ist nicht seine Kernkompetenz. Wenn seine Kernkompetenz aber das Singen ist, dann ist er eben auch Sänger. Und kein Wissenschaftler, der zu wissenschaftlichen Erkenntnissen eine dezidierte Meinung abgeben kann. Eigentlich ganz einfach.

Wobei ich in diesem Zusammenhang nicht einmal an William Shakespeares Tragödie Hamlet denken möchte. Dort findet sich der vielfach zitierte Satz: „Es gibt mehr Ding‘ im Himmel und auf Erden als eure Schulweisheit sich träumen lässt.“ Mich ärgert immer, wie das Zitat aus dem Gesamtzusammenhang herausgebrochen wird. Denn unmittelbar vorher wird seine Einordnung vorgenommen: „So heiß‘ als einen Fremden es willkommen.“
Eine Aussage, die klar macht: Gesunder Menschenverstand ist gut. Aber er erfasst nicht alles. Fahrlässig handelt der, der alles, was er nicht versteht und selbst nicht denken kann, als falsch und unwahr ablehnt. Irgendwie klar, dass so ein Satz nicht in einer Komödie gesagt wird, sondern in einer Tragödie…

Was wäre, wenn ich Nena einmal träfe? Gut, das wird nie passieren. Sie wird auch gar nicht mit mir reden wollen. Warum auch? Aber ich, was würde ich ihr gerne sagen? Vielleicht, dass ich mich ärgere, wie der Spiegel ohne notwendigen Zusammenhang das Zitat vom Gottglauben der Sängerin, der ihr tiefes Vertrauen ins Leben schenkt, einfließen lässt? Warum macht der Spiegel das? Was will uns der Dichter damit sagen, wie es früher in der Schule hieß?

Und tatsächlich hätte ich hier etwas, was wäre, wenn ich Nena einmal träfe. Dann würde ich ihr eine der Geschichten erzählen, die ich – irgendwie, irgendwo, irgendwann, die Zusammenhänge weiß ich nicht mehr – einmal gehört habe, eine Geschichte, die ich heiß und innig liebe: die Geschichte von dem drohenden Hochwasser und den Menschen in Flussnähe, die aufgefordert werden, ihre Häuser zu verlassen, bevor die Deiche brechen. Erst durch eine Rundfunkdurchsage, dann durch Polizeifahrzeuge, die mit Lautsprechern durch die Ortschaften fahren. Einen Mann interessiert das überhaupt nicht. Der lebt in seinem tiefen Glauben an Gott. Als die Deiche brechen und die Rettungskräfte Boote einsetzen, um die letzten vom Wasser Eingeschlossenen zu retten, verbarrikadiert sich dieser Mann in seinem Haus. Der Glaube an Gott gibt ihm das tiefe Vertrauen an seine Rettung. Das ändert sich auch nicht, als er bereits vor den Fluten auf das Dach seines Hauses fliehen muss. Standhaft weigert er sich, in einen Rettungshubschrauber einzusteigen. Er glaubt fest an Gott, er bleibt standhaft. Am Ende der Geschichte ertrinkt er natürlich.

Wobei das noch nicht das endgültige Ende der Geschichte ist. Quasi im P.S. zur Geschichte steht er vor seinem Gott und macht dem schreckliche Vorwürfe: „Ich habe an dich geglaubt, auf dich vertraut. Aber du hast mich ertrinken lassen!“
Die banale Antwort: „Ich habe dir eine Radiodurchsage geschickt, Polizeifahrzeuge, ein Rettungsboot und einen Rettungshubschrauber. Einsteigen musst du schon selbst!“

Ja, das wäre, wenn ich Nena einmal träfe: Diese Geschichte würde ich ihr gerne erzählen. Wobei Sie und ich das alles als Spinnerei abtun sollten. Denn es wird ja eh nie dazu kommen. Und Sie und ich wissen: Auch ich stehe nur auf einem Berggipfel. Bestimmt gibt es andere, die ein bisschen höher geklettert sind als ich, die deshalb noch ein Stück weiter sehen, mehr erkennen, alles ein Stück besser durchschauen. Ob Hank dazugehört? Fragen Sie ihn selbst. Er glaubt fest daran.
Jetzt aber entschuldigen Sie mich. Ich nehme jetzt den Deckel von meinem Plattenspieler, lege eine alte Nena-Platte auf und denke noch einmal darüber nach: Was wäre, wenn ich einmal Nena träfe… Wäre es heute, dann vielleicht: Happy Birthday, Nena. Alles Gute zum 61.

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

Kommentare

Hinterlassen Sie ein Kommentar