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Deutsche Besonderheit: Autobahnkirchen. Halt doch mal an! (1. August)

Jeder kennt sie, jeder hat von ihnen gehört. Und obwohl Schilder auf sie aufmerksam machen: Die meisten fahren achtlos an ihnen vorbei. Und trotzdem halten viele bei ihnen und besuchen sie. Erstaunlicherweise manche auch, obwohl sie mit der ganzen Geschichte normalerweise gar nichts zu tun haben. Die Rede ist von Autobahnkirchen.

Krieg auf der Autobahn

Gedrängelt, genötigt, fast schon angeschoben: Fast jeder hat es schon erlebt, dass der Hintermann mit seinem Geschoss fast im eigenen Kofferraum hängt. Und selbst wer bislang noch an solch einem traumatischen Erlebnis vorbeigekommen ist, weiß: Auf unseren Autobahnen herrscht Krieg. Immer mehr Menschen, die mit der wachsenden PS-Zahl ihrer Fahrzeuge geistig nicht Schritt halten. Die Autobahnkirchen sind da so etwas wie ein Gegenstück: Wer eine Autobahnkirche besucht hat, fährt anschließend gelassener, ruhiger und entspannter weiter. Sagen zumindest die Erfinder der Autobahnkirchen.

Halt doch mal an

Und ich kann bestätigen: Es stimmt. Ganz bewusst habe ich kurz meine Fahrt unterbrochen, habe nach dem Hinweis auf eine Autobahnkirche den Blinker gesetzt und bin abgebogen. Ein bisschen komisch kam ich mir schon vor: Noch nie zuvor habe ich eine Autobahnkirche besucht. Warum auch? Einen Grund dafür hatte ich bislang noch nicht dafür gesehen.
Als ich aus meinem Auto steige, höre ich noch das Vorbeibrausen der Fahrzeuge. Dröhnen, knattern, heulen – wie unterschiedlich doch die Motoren und das Geräusch der abrollenden Reifen klingen können. Darauf geachtet habe ich bisher noch nie. Verändert allein meine Absicht, tatsächlich einmal in eine Autobahnkirche hineinzugehen, meine Wahrnehmung? Ich liebe Küchenpsychologie. Aber das geht mir dann doch zu weit.

Oase der Ruhe

Ich öffne die Tür, stehe in einer Art Schleuse. Denn nur ein Schritt vor mir ist schon die nächste Tür. Fast wirkt es wie eine Doppelhürde auf mich, die ich überwinden soll, bevor ich das Innere erreiche. Doch bevor ich die zweite Tür öffnen kann, gleitet die erste Tür hinter mir schon wieder ins Schloss. Und sperrt das Grundrauschen der rollenden Fahrzeuge zu einem großen Teil aus. Als sich hinter mir die zweite Tür schließt, ist es tatsächlich still. Eine erstaunliche Ruhe hier in diesem Raum, während draußen der Verkehr tobt. Und wie! Schließlich haben wir Ferienzeit und damit Hauptreisezeit.

Fast wie jede andere

Mein Blick streift ruhelos durch den Raum. Ich bin allein in dieser Autobahnkirche. Ihre Architektur erscheint fast ein bisschen futuristisch. Ansonsten erfassen meine Augen nichts, was ich nicht aus anderen Kirchen kenne: vorne ein leicht abgegrenzter Raum, den durch gezielt angeordnete Fenster einfallendes Licht geschickt in Szene setzt. Das meiste Licht fällt auf einen schlichten Tisch, der als Altar genutzt werden kann. „Altarraum“, kommt der Fachbegriff aus meinem Gedächtnis. „Chorraum“ schiebt es nach. Mir fallen Begriffe ein, die ich seit Jahren weder gehört, noch selbst genutzt habe. Mr. Spock würde vermutlich eine Augenbraue hochziehen und „faszinierend“ von sich geben. Ist es auch! Was das Gedächtnis alles so reproduziert, wenn es für einen Moment zur Ruhe kommt… Ansonsten: Sitzbänke, Kerzenleuchter, eine Art Tisch, auf dem etliche Kerzen brennen. Manche davon sind weit heruntergebrannt, einige mittellang. Zwei Kerzen brennen noch nicht allzu lange. Da waren wohl heute schon einige Besucher vor mir da. Neben den Kerzen eine Kiste mit einem Schlitz, in das man das Geld für eine Kerze und für Spenden einwerfen kann. Opferstock heißt das Teil, stelle ich nach einem kurzen Kramen in den hintersten Winkeln meines Gedächtnisses befriedigt fest. Gesichert ist der wie ein Tresor. Diebstahl macht längst auch vor Kirchen nicht mehr Halt. Vandalismus leider auch nicht. Deshalb, so lese ich später, ist auch manche Autobahnkirche videoüberwacht.

Kerze brennt

Nur wenig später brennt auch meine Kerze, versinken ein paar Euro in den Opferstock. Ich ertappe mich dabei, dass ich mich tatsächlich auf ein paar Gedanken fokussiere, gleich an mehrere Menschen denke, die in ihrer ganz konkreten Lebenssituation Unterstützung und Beistand brauchen können. Menschen, denen ich tatsächlich alles Gute wünsche. „Wie bei einer Sternschnuppe: Wenn du die siehst, darfst du dir auch etwas wünschen“,

hat ein Bekannter einmal den Brauch, in Kirchen Kerzen anzustecken, kommentiert. „Blödsinn“, habe ich damals erwidert. „Staub- und Gesteinspartikel, die gerade beim Eintritt in die Erdatmosphäre verglühen, und seine Gedanken vor Gott zu tragen, also zu beten, sind etwas völlig Verschiedenes.“ Habe ich gerade beim Anzünden meiner Kerze etwa gebetet?

Anliegen, Hoffnungen, Wünsche

Hinten in der Kirche liegt ein Buch aus. Hier kann jeder seine Wünsche, seine Bitten eintragen. „Anliegenbuch“, meldet sich mein Gedächtnis wieder. Ich blättere durch das Buch. Bitten für kranke Angehörige finde ich, ein Eintrag, mit dem Tod eines geliebten Menschen klarzukommen, Bitten um die eigene Gesundheit. Mit einer Handschrift, die von einer Frau stammen könnte, schreibt jemand von einem geplatzten Reifen und dem Auto, das ins Schleudern geraten ist. Zum Glück sei das Auto unbeschadet zum Stehen gekommen. Jetzt, ein gewechseltes Rad und einige Kilometer später, danke er dafür. Danke sie dafür, stelle ich fest. Denn untendrunter stehen „Käthe“ und ein Datum aus dem letzten Monat. Beeindruckend.
Genauso beeindruckend wie die Bitte, heil und unbeschadet zu Hause anzukommen. Was mag diesen Menschen bewogen haben, Beistand von oben zu erbitten? Ein langer Text fällt mir auf: Ist das Polnisch, was da steht? Kann sein. Und „Willy was here!“ Vielleicht reicht das schon. Einfach zu hinterlassen, dass man hier war. „Ana-Maria“, schreibe ich. Und das Datum. In den Moment, in dem ich das schreibe, habe ich keine Ahnung, was ich damit verbinde. Der da oben, der wird es schon wissen, denke ich. Und bin überrascht von mir selbst.

Deutsche Besonderheit

Später lese ich nach: In keinem anderen Land der Welt gibt es Autobahnkirchen, nur bei uns in Deutschland. Die erste dieser Kirchen entstand bereits im Jahr 1958. Mittlerweile gäbe es in Deutschland 44 Autobahnkirchen, getragen von Initiativen und Vereinen, fast die Hälfte in evangelischer Trägerschaft. Annähernd genauso viele Kirchen würden gemeinsam von katholischen und evangelischen Initiativen betreut. Nur etwa ein Fünftel der Autobahnkirchen ginge auf die katholische Kirche zurück. Und trotzdem seien die meisten Besucher wohl katholisch. Dazu männlich. Männlich und mittelalt. Die Statistik erfülle ich also nicht. Aber immerhin bin ich eine von mehreren Hunderttausend Besucherinnen und Besuchern pro Jahr.

Früher am Ziel?

Seltsam berührt verlasse ich die Autobahnkirche. Von einem großen Lkw schlurft ein Mann auf die Kirche zu. Wachablösung quasi: Ich gehe, er kommt. Wird auch er eine Kerze anzünden? Wahrscheinlich.
Als ich wieder in meinem Auto sitze und den Motor starte, stelle ich fest: Zwanzig Minuten bin ich in der Autobahnkirche gewesen. Zwanzig Minuten, die ich später an meinem Ziel ankommen werde. Na und? Ruhig, gelassen und tatsächlich entspannt fahre ich weiter. Und werde das Gefühl nicht los, dass sich der Abstecher gelohnt hat. Vielleicht weil es ganz weit weg, irgendwo tief in meinem Inneren diesen Gedankenfetzen gibt, der mir sagt: Vielleicht habe ich mein Ziel bereits vor wenigen Minuten erreicht.

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

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