Drücken Sie Enter, um das Ergebnis zu sehen oder Esc um abzubrechen.

Wir schaffen das? Wir haben es geschafft! Und wir schaffen noch mehr (9. Juli)

Gute fünf Jahre ist es mittlerweile her, dass die so genannte Flüchtlingskrise ihren Höhepunkt erreichte. Anfang Oktober wird sich sogar zum sechsten Mal der Tag jähren, an dem Bundeskanzlerin Angela Merkel einen der kürzesten und prägnantesten Sätze ihrer nunmehr rund 16jährigen Amtszeit sagte: „Wir schaffen das!“ Mut machen wollte sie, die Folgen der Flüchtlingsschwemme anzugehen und zu meistern. Ein Satz, der sich nicht

nur als richtig erwiesen hat – wir haben es geschafft! – , sondern auch als zutiefst menschlich.

Unterschiedliche Ansichten

Im Nachhinein kann man festhalten: Die ungeheuren Flüchtlingsströme haben vor allem gezeigt, dass die Staaten in Europa nur sehr unzureichend mit menschlichen Problemen umgehen können. Natürlich ist es schwierig, wenn Tausende von Menschen auf südeuropäischen Küsten und Inseln anlanden und versuchen, von dort aus weiter nach Norden zu ziehen – jeder auf dem Sehnsuchtsweg zu einem Leben in Frieden, Freiheit, mit einer gesicherten Menge zu essen und zu trinken. Da braucht es eine Menge an Solidarität innerhalb Europas. Klar, man kann auch sagen: Wir steigen aus, wir haben mit Solidarität nichts am Hut, wir wollen keine Hilfe leisten, wir schotten uns ab. Die Briten haben das auf deutliche Weise vorexerziert. Wenngleich ich meine: zu kurz gedacht! Solidarität geht in zwei Richtungen. Mal gibt der eine mehr, mal der andere, je nachdem, wer gerade der Schwächere ist. Auch wenn es manchmal lange dauert, bis es einen derartigen Ausgleich gibt. Wenn er denn überhaupt kommt. Na und? Solidarität hat auch immer etwas mit Menschlichkeit zu tun.

Vorteile herausschlagen

Dass andere den Briten zumindest in Sachen Abschottung gerne gefolgt wären, macht die Sache nicht besser. Im Gegenteil: Manche haben auf die je ihnen eigene Weise blockiert, geschachert und versucht, Vorteile herauszuschlagen. Dass Millionen an Hilfsgeldern an die Türkei geflossen sind – gut so. Denn allein kann die Türkei die Kosten für all die Flüchtlinge gar nicht schultern. Ebenso wenig wie Griechenland und Italien, ebenfalls Länder, die Flüchtlinge über das Wasser zu erreichen versuchen. Völlig inakzeptabel aber, wenn die Flüchtlinge missbraucht werden: Wenn ihr anderen nicht tut, was wir wollen, machen wir die Grenzen auf. Dann werdet ihr schon sehen, was auf euch zukommt. Erpressung statt Politik? Menschen als Waffe? Kann man machen. Aber wer denkt, dass sich so langfristig ein vertrauensvolles Miteinander zwischen Staaten entwickelt, irrt.

Das Fliehen geht weiter

Mittlerweile sind die Flüchtlingsströme zurückgegangen. Und deshalb ist bei uns aus dem Blick geraten, was tatsächlich immer noch passiert. Immer wieder, jeden Tag. Dass mutige Männer und Frauen mit ihren Schiffen im Mittelmeer und zwischen Afrika und den Kanaren unterwegs sind, um Flüchtlinge vor dem Ertrinken zu retten. Was dort passiert, ist ganz sicher ein Akt der Nächstenliebe. Sich einsetzen für die, die irgendwo ganz am Ende stehen. Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, weil sie wegen ihrer Religion oder ihrer politischen Ansichten benachteiligt werden, oft genug verfolgt, gefangengenommen und sogar gefoltert werden; Menschen, die einfach keine Chance mehr haben, in ihrer Heimat ein erträgliches, menschenwürdiges Leben zu führen; Menschen, die vor Bürgerkriegen und brutalen Machtmenschen fliehen müssen, weil sie denen im Weg stehen.

Keine heile Welt

Und dann? Wenn sie sich wirklich dazu durchdringen, Teile ihrer Familie, ihre Heimat, ihre persönlichen Bindungen und ihre letzten Habseligkeiten zurückzulassen? Oft genug werden sie von skrupellosen Schleppern getäuscht, bleiben sich plötzlich in der Wüste oder auf See selbst überlassen – denen, die ihnen vorher ihre Ersparnisse gegen blumige Versprechungen abgenommen haben, ist es egal, ob die Flüchtlinge ertrinken oder verdursten.
Trotz all dieser schrecklichen Umstände erreichen viele das „rettende Ufer“. Aber dort finden sie keine „heile Welt“, nicht den Frieden, nach dem sie sich sehnen. Dort finden sie Auffanglager, die sie nicht verlassen dürfen, in denen sie – ähnlich wie in ihrer Heimat – eingesperrt sind. Vor allem: viel, viel länger, als ein Aufenthalt in diesen Lagern geplant war. Zwar ist das Leben der Flüchtlinge nicht mehr direkt bedroht. Aber wer will schon in einem Lager, abhängig von der Gunst anderer, leben, wenn er eigentlich in der Lage wäre, für sich selbst zu sorgen. Wenn man ihn nur ließe. Würden Sie das für sich wollen?

Wir schaffen das: Beispiel Wiedervereinigung

Wir schaffen das! Dank des Willens und der Einsatzbereitschaft der Menschen hat dieses Land zwei Weltkriege überstanden. Was da an Wiederaufbau geleistet wurde, gehört in die Reihe der „Weltwunder der Neuzeit“. Und als die abgewirtschaftete, bankrotte DDR sich der mehr oder weniger wohlhabenden Bundesrepublik anschloss und diese fünf neue Bundesländer hinzubekam, haben das die Menschen geschafft. Noch immer ist die Wirtschaftsleistung im Osten nicht so hoch wie im Westen, noch immer verdienen die Menschen im Osten weniger als im Westen. Aber die Kluft wird immer geringer. Weil die Menschen in Ost und West daran arbeiten, weil sie es wollen, weil sie davon überzeugt sind, dass wir es schaffen, zu einem geeinten Volk zu werden. Und letztlich auch die Unterschiede zwischen Ost und West noch weiter zurückzufahren. Ganz davon abgesehen, dass es auch zwischen einzelnen Regionen innerhalb der so genannten „alten Bundesländer“ ein deutliches soziales Gefälle gibt. Wir haben das geschafft – weil wir das schaffen wollten. Zumindest die meisten von uns.

Carola Rackete

Bei der so genannten Flüchtlingskrise ist und war das ähnlich. Viele Menschen haben sich ehrenamtlich engagiert, mit Geld- und Sachspenden geholfen, zugepackt, wo immer es notwendig war. Sie haben sich solidarisch gezeigt mit denen, die auf Hilfe angewiesen waren. Menschen wie die Kapitänin Carola Rackete, die 2019 mit ihrer Sea Watch 3 und 53 Flüchtlingen an Bord trotz des Verbotes der italienischen Regierung anlandete, wurde festgenommen. Erst zwei Jahre später, am 19. Mai

2021, wurde das rechtliche Verfahren gegen sie eingestellt. Ein Verfahren, dass die Kapitänin bestrafen sollte, weil sie Menschenleben gerettet hat.

Die nächste Krise kommt bestimmt

Natürlich musste man hier auch erst einmal Erfahrungen sammeln. So, wie das bei vielen Dingen ist, die neu sind und plötzlich doch mit einer gewissen Intensität wirksam werden. Da läuft auch nicht immer alles glatt. Im Grunde weiß jeder, dass das völlig normal ist. Und heute gilt: Die Flüchtlingskrise, die so sehr die Gemüter erregt hat, längst nicht mehr das ganz große Thema in diesem Land. Es ist abgeebbt, aus den Schlagzeilen verschwunden, längst von anderen Themen wie zum Beispiel Corona verdrängt worden. Und keine Sorge: Morgen, übermorgen, irgendwann wird es wieder ein Thema geben, das wichtiger ist. Ein Aufreger, der wieder schrecklich und bedrohlich ist und mit dem Ende des christlichen Abendlandes gleichgesetzt wird. Na und? Wenn wir wirklich wollen – und damit meine ich nicht nur Lippenbekenntnisse – dann gilt auch hier: Wir schaffen das!

Gegen Nachahmung oder Aushöhlung unserer Grundwerte

Zurück zu den Flüchtlingen: Je aussichtsreicher es für Flüchtlingen erscheint, ein Leben in Würde und Freiheit tatsächlich erreichen zu können, desto mehr werden sich in Boote setzen oder über Routen wie die Balkan-Route zu Fuß versuchen, dieses Leben zu erreichen. Natürlich können wir die Humanität sausen lassen, können menschliche Solidarität oder, wenn Sie wollen, die Nächstenliebe über Bord werfen. Und wir können das sogar damit begründen, dass wir die Nachahmung verhindern wollen. Abgesehen davon, dass wir die Flüchtlingsbewegung am besten dadurch zum Abschwellen bringen, dass wir den Menschen helfen, in ihrer Heimat ein menschenwürdiges Leben zu führen – der Mangel an Menschlichkeit, diese Preisgabe von Solidarität wird auf uns selbst zurückfallen: Je härter wir uns nach außen zeigen, desto mehr werden wir auch im Inneren verhärten. Wenn wir uns daran gewöhnen, anderen gegenüber unsere Grundwerte auszuhöhlen, ist es nur eine Frage der Zeit, dass auch in Inneren unsere Grundwerte hinweggespült werden. Eine geteilte Menschlichkeit gibt es nicht.

Verweigerer

Kurze Zeit nach Angela Merkels legendärem „Wir schaffen das“ hat sich AfD-Mann Alexander Gauland in Erfurt der Aussage der Kanzlerin bedient: „Nein! Wir wollen das gar nicht schaffen“, rief er mehreren Tausend Demonstranten zu. Und die johlten zustimmend. Wohl auch, weil sie vergessen hatten, dass sie selbst oder ihre Eltern aus einem bankrotten, unfreien Staat in die Freiheit der Bundesrepublik „geflüchtet“ waren. Na ja, kann man ja mal vergessen.
„Wir schaffen das“ – ein wahrhaft legendärer Satz. Ja, es gibt sie, die es nicht schaffen wollen, die Sand im Getriebe sein möchten, die Solidarität, Nächstenliebe und Humanität auf die Schlachtbank tragen möchten. Genau diejenigen müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass der weitaus größte Teil der Menschen in diesem Land eine andere Haltung hat. Und den Verweigerern klar sagt: Wir schaffen das – auch wenn ihr das nicht wollt. Und das wird auch für alle Krisen gelten, die noch kommen. Weil wir das nämlich schaffen wollen und alles dafür tun.

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

Kommentare

Hinterlassen Sie ein Kommentar