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Der Splitter im Auge des Gegenübers und das Brett vor dem eigenen Kopf (12 Juli)

Nein, heute gibt es an dieser Stelle kein Wort zum gestrigen Endspiel der Fußball-Europameisterschaft. Kein Wort über unfaire Fans, Schwalben von Spielern, rassistische Hasskommentare, Respektlosigkeiten gegenüber den Nationalhymnen der Gegner, nichts, das an Begriffe wie Spreaderevent, Brexit oder Reichtum durch Kolonialismus nur im Entferntesten erinnern könnte. Dazu habe ich gestern bereits genug geschrieben. Und jetzt auch nur annähernd etwas in diese Richtung zu schreiben, könnte schnell in den Topf „Genugtuung“ und „Häme“ gepackt werden. Deshalb also: kein Wort, kein Gedanke in diese Richtung.

Ketchup-Fleck

Aber eine Geschichte möchte ich erzählen, die sich vor gar nicht allzu langer Zeit in England zugetragen hat. Eine Geschichte, die übertitelt sein könnte mit: Den Splitter im Auge deines Gegenübers siehst du, das Brett vor dem eigenen Kopf nicht. Zugegeben: ein leicht verändertes Bibelzitat. Aber eines, das passt. Und das mit einem Londoner Staranwalt, Teilhaber einer großen Kanzlei, zu tun hat. Aus Gründen der Höflichkeit verschweige ich an dieser Stelle seinen Namen. Dass er sich dank seiner Selbstgerechtigkeit bis auf die Knochen blamiert hat, mag genügen.
Der Grund: Eine Sekretärin hatte ihm versehentlich einen Ketchup-Flecken auf die Anzughose gekleckert.

Was Recht ist, …

Der Anwalt, Jahreseinkommen jenseits von 200.000 Euro, war nicht faul und dachte sich „Was Recht ist, …“. Deshalb forderte er seine Sekretärin zur Zahlung der Reinigungskosten auf. Die hatte allerdings ziemlich kurzfristig Urlaub genommen. Damit die Zahlungsaufforderung auch im Zweifel auch nachweisbar sei – von wegen Verstreichen von Fristen und ähnlichem – forderte der Anwalt die Begleichung der Reinigungskosten

schriftlich, und zwar per E-Mail. Vier englische Pfund, also etwa vier Euro achtzig, sollte die Sekretärin gefälligst berappen. Als die nicht reagierte, schickte der Staranwalt gleich eine zweite Zahlungsaufforderung hinterher.

… muss Recht bleiben

Jetzt endlich bekam er eine Antwort: Weil die Mutter der Sekretärin schwer erkrankt war, habe sie sich nicht eher um die Angelegenheit kümmern können. Mittlerweile aber sei die Mutter gestorben und begraben – Dinge, die ihr einfach wichtiger waren, seien somit erledigt. Und natürlich sei ihr klar, dass die finanziellen, rechtlich bindenden Forderungen des Teilhabers einer Anwaltskanzlei größer seien als die menschlichen Bedürfnisse einer einfachen Sekretärin. Eine wahrheitsgemäße Antwort, die den Anwalt beschämte.

Shame on you!

Klar ist: Wenn die Sekretärin ihm die Hose bekleckert, muss sie ihm als Verursacherin auch den entstandenen Schaden ersetzen. Folglich soll sie auch für die Reinigungskosten aufkommen. Juristisch ist das einwandfrei. Aber andererseits: Lohnt es sich, wegen ein paar Euro einen derartigen Aufriss zu machen? Die Sekretärin hat diese Frage auf ihre Art und Weise beantwortet. Sie schickte ihre E-Mail-Antwort nicht nur an den Anwalt selbst, sondern auch an 250 seiner Kolleginnen und Kollegen. Mag sein, dass die Reaktion der Sekretärin unverhältnismäßig ausgefallen ist. Der Londoner Staranwalt jedenfalls wurde dadurch zum Blamierten und zum Gespött seiner Kolleginnen und Kollegen. Vielleicht ist ihm dadurch bewusst geworden, wie borniert es ist, immer nur die eigene Sichtweise im Auge zu haben, immer nur den Rechtsrahmen auszuschöpfen, statt einfach einmal menschlich mit seinen Mitmenschen umzugehen.

Gelateria vs. ice cream parlor 3:2

Bevor jetzt jemand kommt und unterstellt, der Text sei meine Art, das Drumherum des gestrigen Fußballspiels zu reflektieren: Nein, kein england-Bashing! Denn leider gibt es überall auf der Welt solche Menschen wie den Londoner Anwalt. Was mich persönlich allerdings betrifft: Ich freue mich auf meine Mittagspause, in der meine Kolleginnen und ich uns hoffentlich nicht die Hosen bekleckern. Aber eine Mittagspause voller Cioccolato, Pistacchio, Stracciatella, Mandorla, Limone, Fragola, Spumoni, Bacio oder Frutti di scusa – je nachdem, was unsere Gelateria heute zu bieten hat. Sicher ist nur: Drei Kugeln werden es sein. Zwei sind eindeutig eine zu wenig!

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

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