Wildschwein in Pfefferminzsoße oder Pasta? – Endspiel der Fußballeuropameisterschaft (11. Juli)
Heute Abend haben Sie mal wieder die Qual der Wahl: Tatort-Wiederholung, Bozen-Krimi (auch Wiederholung), Bares für Rares (ebenfalls Wiederholung), Wiedersehen in Howards End (von 1991 und schon tausendmal gezeigt), der zweiteilige Taunuskrimi „Böser Wolf“ (Sie ahnen es schon: Wiederholung!), Melodien der Berge,
Immer wieder sonntags und das ABC der Volksmusik (na, Sie ahnen es schon: natürlich Wiederholung), Terminator: Genisys oder Mamma Mia! Here We Go Again (jetzt wissen Sie’s aber, oder? Also: Wiederholung). Alternativ bleibt Ihnen das, was vermutlich die höchsten Einschaltquoten erzielt hätte, wenn… Ja, wenn dort nicht England gegen Italien sondern Deutschland gegen Italien zu sehen wäre.
Spiel er lange Enttäuschenden
Italien viermal Weltmeister, wenn auch zweimal schon in den 1930er Jahren, aber immerhin zuletzt 2006, außerdem Fußball-Europameister. Aber das war dann auch schon wieder 1968. Und England? 1966 nach jenem Tor, das kein Tor war, gegen unsere deutsche Nationalmannschaft. Danach? Njet! Nada! Also ein Endspiel derjenigen, die schon lange nicht mehr ganz oben auf dem Treppchen standen. Eine Mannschaft von beiden wird auf dem Treppchen stehen. Egal, ob das andere Team einfach das bessere ist, egal ob sich einer der Trainer vercoacht. Ach nee, wir sind ja schon raus! Kann also nicht passieren. Trotzdem auch ein Spiel der Taktik: Roberto Mancini gegen Gareth Southgate.
Respekt
Der hat gestern etwas ganz Besonderes getan: um Respekt bei der Nationalhymne der Italiener gebeten. Was eigentlich selbstverständlich ist. Aber wohl nicht unbedingt bei den Engländern. Gebuht haben sie bei der deutschen Nationalhymne, gebuht bei der Hymne Dänemarks. Und weil das nicht reichte, wurden dann die dänischen Spieler, allen voran Torwart Schmeichel, mal ein bisschen mit dem Laserpointer geblendet. Auch unmittelbar vor dem umstrittenen Elfmeter, der den Dänen das Aus brachte. Hmmm… So weit ist es mittlerweile im UK gekommen? Das berühmte Fair Play gilt nur solange, wie es auch den eigenen Interessen nutzt?
Sie sind schon ein eigentümliches Völkchen, die Briten. Wie gehen sie denn nun damit um, dass sie nach 55 Jahren mal wieder in einem Finale stehen? Und vorher die Grundfesten ihres Glaubens erschüttert wurden?
Linekers Fußballweisheit
Sie wissen, was ich meine, oder? Die Regel, die ihr ehemaliger Nationalspieler Gary Lineker vor satt 30 Jahren aufstellte: Wonach Fußball ein einfaches Spiel sei, bei dem 22 Männer 90 Minuten über den Platz jagen und am Ende immer die Deutschen gewännen. Na gut, Lineker konnte damals nicht wissen, dass die Deutschen nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft in Brasilien auf Altherren- und Breitbandfußball umschalten würden, anstatt etwas zu tun, was auch nur im Entferntesten an das Jagen früherer Zeiten erinnern könnte. Dass hier alle Traditionen gebrochen wurden – damit müssen die traditionssüchtigen Engländer erst einmal fertigwerden! Weshalb die italienische Taktik für heute Abend schon klar ist: Jagen! Dann denken die Engländer vielleicht, die Deutschen wären auf dem Platz… und wissen bereits vorher, wie das Spiel ausgeht. Dass die Engländer nach gefühlt Hunderten von verlorenen Elfmeterschießen – okay, auch gegen das, was früher einmal unsere Nationalmannschaft war – mittlerweile sogar Wissenschaftler bemühen, um die „Angst des Engländers beim Elfmeter“ zu ergründen und dass Gareth Southgate das Elfmeterschießen schon vor dem Spiel gegen Deutschland üben ließ, ist damit hinfällig. Wobei notfalls eben ein Laserpointer ausreicht, um den gegnerischen Torwart zu irritieren. Ah, hatte ich schon gesagt. Daran merken Sie, wie sehr mich das immer noch ärgert.
Wildschwein in Pfefferminzsoße gegen Ossobuco und Pasta
Pizza, Caffe, Pasta vom Feinsten, Ossobuco, Pecorino, Grana Padona, Taleggio, Mozzarella, Scarmorzam, Stracciatella, Barolo, Brunello, Barbaresco, Chianti Classico und vieles mehr auf der einen Seite, Fish & Chips, Wildschwein in Pfefferminzsoße und heißes Wasser mit Milch auf der anderen Seite – also für mich ist der Fall klar. Kulinarisch gesehen zumindest. Wobei ich nach dem Ossobuco gerne ein leckeres Guinness trinken würde – was ich ja auch darf. Denn das kommt nicht aus England, sondern aus Irland!
Gut, das Wissen über die kulinarischen Seiten Englands stammen zum Teil aus Asterix. Bei Freunden im UK habe ich schon ganz andere, sehr leckere Sachen gegessen. Sehr liebenswerte Freunde, die erschrocken waren, als ihre Eltern sich zum Brexit bekannten. Mit Tränen in den Augen gestanden damals die Eltern ihren erwachsenen Kindern, dass sie es doch eigentlich nur ihren Politikern haben zeigen wollen.
Rückkehr der eigenen Identität
Lügen würden sie doch alle – insofern wäre ja egal, für was sie stimmen. Hauptsache sie bekämen ihre Identität zurück. Meine Freunde haben fast mit ihren Eltern gebrochen – so schrecklich fanden sie deren Haltung. Ich auch. Identität der Engländer? Sofort sah ich Seeräuber vor mir, die nur deshalb keine Piraten waren, weil sie im Auftrag der Britischen Krone raubten, mordeten und Schiffe versenkten; sah die Millionen verschleppter Sklaven vor mir, die Engländer gewaltsam aus Afrika entführten, um sie in ihren Kolonien als billige Arbeitskräfte zu verheizen – sofern sie denn überhaupt die schrecklichen Umstände der Überfahrt überlebten. Es war wie ein Schock für mich, als ich irgendwann einmal las, dass das berühmte „Amazing Grace“ von dem ehemaligen Kapitän eines Sklavenschiffes stammte, der fromm geworden war und auf diese Weise Vergebung seiner Sünden erhoffte.
Das britische Empire
Sorry, aber für mich besteht der Reichtum des großen britischen Empires zu einem sehr großen Teil auf Mord und Totschlag, Raub und Unterdrückung anderer. Ich denke auch an die Stellvertreterkriege in den späteren USA, die Unterdrückung der Bevölkerung auf dem indischen Subkontinent, die
rigorose Eroberermentalität im Nahen Osten, deren Auswirkungen bis heute darin zu spüren sind, dass es dort einfach keinen Frieden gibt, Kanonenbootpolitik statt friedliches Miteinander… Und immer wieder die Ausbeutung unterdrückter Völker – das war für mich britische Identität. Und die wollten die Eltern meiner englischen Freunde durch den Brexit wiedererlangen?Gesagt habe ich nichts. Schließlich wollte ich unsere Freundschaft nicht gefährden. Liebe Freunde, nette, sehr gastfreundliche Eltern, eigentlich Menschen, die normalerweise „tiefer“ und „weiter“ blicken. So entschuldigten meine Freunde ihre Eltern. Eltern, die sie lieben. Denen sie aber im ersten Moment der Enttäuschung die Freundschaft aufkündigten. „Euch besuche ich nie wieder“, entfuhr es ihrem jüngsten Sohn. Ups! Zum Glück hat sich das alles wieder eingerenkt. Trotzdem war das für mich ein deutlicher Beweis dafür, wie sehr der Brexit nicht nur eine Nation spaltet, sondern auch die Familie. Und vermutlich nicht nur die meiner Freunde. Gesagt habe ich also nichts. Gedacht habe ich: Na, gute Nacht! Zurück zur eigenen Identität, zurück in eine glorreiche Vergangenheit, die es – dem Herrn sei’s gedankt – längst nicht mehr gibt?
Wobei die Eltern meiner Freunde in einem tatsächlich Recht hatten: dass sie von Politikern jeglicher Couleur belogen werden. Gerade von denen, die den Hass auf die EU schürten, angeblich, weil die europäischen Bestimmungen die Freiheit der Briten einschränke. Wie kann das sein? Genau diese Politiker oder ihre Parteifreunde hatten doch bei allen europäischen Beschlüssen mit am Tisch gesessen und sich an allen Abstimmungen beteiligt.
Zurück in die Zukunft oder in die Vergangenheit?
Und gerade sie waren es doch, die auf die Osterweiterung drängten… und nun vor allem Menschen aus Osteuropa von ihrer Insel fernhalten wollen. Ja, sie sind schon ein eigentümliches Völkchen, die Briten. Keinen Euro, nie zum Schengenraum dazugehörig, beim Straßenverkehr eisern an ihrem „the right side ist he wrong side“ festhaltend, dafür kämpfend, dass sie ihren Fisch selbst fangen dürfen und jetzt jammern, dass sie den selbstgefischten Fisch nicht verkaufen (, auch weil er für Fish & Chips verpönt ist). Oder die Osteuropäer aus dem Land wünschen und anschließend jammern, dass Zehntausende von Ärzten, MTAs und Pflegern genauso fehlen wie Lkw-Fahrer, die zwar nun nicht mehr die Straßen verstopfen, aber auch die Supermärkte weniger beliefern. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass? Nicht immer einfach, wenn man auf einer Insel wohnt.
Wir sind wieder wer
Was das alles mit Fußball zu tun hat? Überhaupt nichts. Abgesehen davon vielleicht, dass es heute Abend in jedem Fall auch einen politischen Sieger geben wird. Gewinnt Italien trotz Berlusconi, Salvini und Co, ist das für das Land dasselbe wie für England trotz Johnson und Co: die Rückkehr auf eine Top-Position auf der politischen Bühne. Nach Jahren der Abstinenz ist man endlich wieder wer.
Ähnlich übrigens wie bei uns nach der gewonnen Weltmeisterschaft 1954: Man hat es geschafft, im Konzert der Großen eine eigenständige Rolle zu spielen. Man ist wieder angekommen. Und es tut einfach gut zu wissen und zu zeigen, dass man die Nummer Eins in Europa ist. So ein Erfolg – siehe 1954! – kann ein ganzes Volk motivieren. Deshalb sei er dem Sieger von heute Abend von Herzen gegönnt.
Dass dieser Erfolg nur einer im Fußball ist, werden sowohl auf dem Stiefel wie auf der Insel nur wenige bemerken. Eine schlechte Politik und ihre Konsequenzen mag der Erfolg im Fußball für eine kurze Zeit überdecken. Ungeschehen macht er sie nicht.
Alles in allem hoffe ich für heute Abend völlig unparteiisch: Möge der Bessere gewinnen. Insgeheim wünsche ich mir meinen Freunden im UK zum Trotz: Mögen die Italiener die Besseren sein. Lieber Ossobuco, Pasta, einen schönen Barolo und zum Nachtisch Panna Cotta mit einem aromatischen Caffe als Windschwein mit Pfefferminzsoße bei heißem Wasser mit Milch. Ein Guinness kann ich anschließend immer noch trinken. Und, hey: Es ist NUR Fußball! Oder?
Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.
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