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Erzähler und Chronist für die Ewigkeit – zum Todestag von Walter Kempowski (5. Oktober)

„Waren Sie schon einmal so richtig erkältet?“
Meine Frau und ich sind ins hessische Ortenberg gefahren. Dort wollen wir eine Lesung des Schriftstellers Walter Kempowski besuchen. Der mittelgroße Saal ist gut gefüllt. In der ersten Reihe, ganz vorne, sitzen nur wir zwei. Wie in einer Kirche: Lieber drängen sich die Menschen in den hinteren Reihen eng zusammen, als vorne zu sitzen, so ganz ohne Deckung.

Gelungener Einstieg in den Abend

Das stelle ich fest, weil ich mich noch einmal umdrehe, jetzt, kurz bevor es losgehen soll. Ein Mann fällt in meinen Blick: Er schlurft in diesem Moment durch den Gang nach vorn. Schlurft – nein, das Wort ist falsch. Er gleitet, schwebt, geht, und doch schlurft er ein wenig. Bis ganz nach vorn kommt er, grüßt uns beide knapp und setzt sich dann neben meine Frau. „Waren Sie schon einmal so richtig erkältet?“

Tagebuch

Walter Kempowski wie er leibt und lebt. Er erzählt, flirtet – natürlich nicht mit mir, sondern eben nur mit meiner Frau – und freut sich sichtlich. Dieser Auftakt scheint ihm gut zu tun. Ein guter Einstieg in den Abend. Das muss er nachher einmal in seinem Tagebuch vermerken, wenn er nach der Lesung wieder im Hotel ist. In seinen Büchern findet man solche Sätze gelegentlich. Vielleicht hat er, der unermüdliche Sammler, Chronist und Erzähler ja in diesem Moment in Ortenberg wirklich so gedacht. Ich muss heute daran denken. Am 5. Oktober 2007 starb Walter Kempowski. Und ich gebe zu: Auf den heutigen Tag habe ich mich lange gefreut. Denn lange schon stand für mich fest, dass ich am heutigen Tag diese Hymne auf ihn schreiben werde. Mal sehen, was daraus wird.

Ortenberg, 18.4.1991

Kempowski liest an diesem Abend in Ortenberg aus „Hundstage“. Zumindest glaube ich das in der Rückschau. Ganz sicher bin ich mir nicht. Kempowski, der Autor und sein Werk, haben so viel Eingang in mein, in unser Leben gefunden, dass es nicht immer leicht ist, aus der Erinnerung alles richtig zu sortieren. Und auch diese Lesung liegt lange zurück, rund 30 Jahre. 18.4.1991 – so signiert er später an diesem Abend die von ihm geschriebenen Bücher.

Erstbegegnung

Begonnen hat für mich alles durch einen Studienkollegen, damals ein Freund, heute nur noch eine Erinnerung. Schade, würde Kempowski sagen. Und würde noch irgendetwas Bedeutungsschwangeres ergänzen. „Da mal nachhaken“, vielleicht.
„Musst du unbedingt lesen“, sagte damals mein Freund, als er mir meinen ersten Kempowski in die Hand drückte. Walter Kempowski, Autor etlicher Romane und Zeitzeugnisse, Reederssohn aus Rostock, im Krieg enteignet. Mehrere Jahre in Bautzen im Knast. Der Grund: Als die Russen nach dem 2. Weltkrieg im Osten Industrieanlagen abbauten, beschwerte sich Walter bei den Amerikanern. Kann man so blöd sein? Autobiografisch, natürlich literarisch verfremdet. Eine Chronik seiner Familie. Und mehr noch: eine „Chronik des Bürgertums“, wie es immer heißt.

Tadellos, tadellöser, Tadellöser & Wolff

„Und“, fragte mich mein Freund von da an jeden Morgen, wenn wir gemeinsam zur Uni fuhren. „Wie weit bist du?“
Ich gab mir wirklich redlich Mühe. Schon dieser dämliche Titel: Tadellöser & Wolff. Vater Karl liebte die Zigarren der Firma Löser & Wolff. Bei Kempowskis verselbstständigten sich Namen aber gelegentlich. Deshalb sprach man von „tadellos“, wenn etwas mehr als nur in Ordnung war. „Tadellöser“ hieß es, wenn es sehr gut war. Wenn aber etwas unübertrefflich gut war, erhielt es das Prädikat „Tadellöser & Wolff“. Das war dann die Krönung. Besser ging‘s nicht mehr. Natürlich gab es auch das genaue Gegenteil: Das war dann „Miesnitzdörfer & Jensen“. Wenn also etwas „obermies“ war! War das mein Humor? Anfangs ganz sicher nicht. Zwei, drei Seiten habe ich anfangs pro Tag geschafft. Öde, anstrengend, nicht meine Sprache. Die restlichen 400 Seiten verschlang ich dann in einer einzigen Nacht. Kempowski hatte mich gepackt – und bis heute nie mehr losgelassen.

Kein Kempowski-Wunder

Jahre später quäle ich mich durch den Roman einer DDR-Schriftstellerin, hoffe auf einen ähnlichen Effekt, auf ein „Kempowski-Wunder“. Das Buch hatte ich bei meinem Besuch der ehemaligen DDR gekauft. So dachte ich den Zwangsumtausch wenigstens einigermaßen sinnvoll nutzen zu können. Durch dieses Buch quäle ich mich später in einem Sommerurlaub, schlafe nach maximal zwei Seiten regelmäßig ein. Aber ich hoffe auf ein Wunder ähnlich wie bei Kempowski. Stattdessen komme ich irgendwann an die Stelle, wo ein ganzes Päckchen Seiten fehlt. Das ist der Zeitpunkt, an dem das Buch endgültig in die Ecke fliegt. Der Titel und der Name der Autorin verschweige ich an dieser Stelle aus Gründen der Barmherzigkeit. Dazu, dass die Seiten fehlten, konnte sie nichts. Auch Kempowski war an meiner Enttäuschung unschuldig. Obwohl ich sicher bin, dass er seinen Spaß daran gehabt hätte. „Das kommt davon, wenn man etwas Anderes liest als seinen Lieblingsautor!“ Vielleicht hätte er das gedacht. Vielleicht auch nur so getan, als ob er so gedacht hätte. Gesagt hätte er das sicherlich nicht.

„Nachting!“ „Gut dem Dinge!“

Szenenwechsel, ein paar Jahre zuvor: Meine Frau und ich, damals passionierte Zelter, nehmen meinen Cousin und seine Frau für ein Wochenende mit auf einen Campingplatz. Unser Zelt, groß und komfortabel mit reichlich Platz, ist schnell aufgebaut. Anschließend gegessen,

getrunken, später hingelegt zum Schlafen. Und dann, fast schon eingeschlafen, murmelt mein Cousin dieses eine Wort: „Nachting!“ „Gut dem Dinge“, flüstere ich zurück. An Schlaf ist in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Denn dadurch, dass wir zwei Chiffren verwendeten, die neben vielen anderen in Kempowskis Romanen zu finden sind, hatten wir uns soeben als – darf man das sagen? – „Kempowskianer“ geoutet. Wir hatten also beide Kempowski gelesen, ohne das voneinander zu wissen, weil wir nie darüber gesprochen hatten?

“Kempowski-Sprech“

Sekunden später sitzen wir am Tisch und hauen uns Sprüche aus Kempowskis Büchern um die Ohren. Die gesamte Nacht über! Ob der Schinken von Müller sei? „Dann ist er gut!“ „Überzüchtet wie die Rennpferde!“ „Ansage mir frisch, wie war es in der Schule?“ Und „Was macht meine Haut?“ Antwort: „Primig, primig!“ „Is dat noog?“ Antwort: „Nein, Großvater!“ Und noch einmal: „Is dat immer noch nich noog?“ Und wieder die Antwort: „Nein, Großvater!“ Ulla, Walter und Robert wollen ins Kino und Opa rückt die benötigten Penunsen nur „scheibchenweise“ raus. Als sie dann endlich das Eintrittsgeld zusammen haben, verlassen sie fluchtartig Großvaters Wohnung. Schließlich fängt der Film gleich an. „Lorbasse!“, wütet der Alte hinter ihnen her. Und Schlimmeres!
Apropos Großvater: „Wat is dat?“ Antwort: „Die Totenmaske von Humperdinck!“ Diese Antwort hätte im Chor kommen müssen. Aber unsere Frauen verweigern ihre Mitwirkung, wollen einfach nur schlafen. Dieses Wochenende auf einem Campingplatz hatten sie sich anders vorgestellt. Gänzlich anders! Und deshalb erklären sie uns kurzerhand für „bekloppt“.

Bekloppt!

Das tut an Weihnachten auch die gesamte Verwandtschaft: Irgendwann fangen mein Cousin und ich aus Langeweile an, uns in „Kempowski-Sprech“, wie wir das nannten, zu unterhalten. Jeder hörte die Worte, die wir sagten, aber niemand verstand, um was es ging. Nur wir zwei. Und meine Frau. Denn auch die hatte ihren Kempowski gelesen. An Weihnachten aber und vor der Verwandtschaft hielt sie sich vornehm zurück.

Nicht Kempowski. Einfach Walter!

Zurück nach Ortenberg, zurück zur Lesung, zurück zum 18. April 1991: Höchste Zeit, dass ich auch in diesem Text davon wegkomme, immer wieder „Kempowski“ zu schreiben. Mehrfach hatte ich Kempowskis „Deutsche Chronik“ am Stück gelesen, längst war mir Walter so vertraut wie der Rest seiner Familie. „Auf Feuer gekocht, Karl“ und viele andere Sprüche aus seinen Büchern waren längst zum gemeinsamen Kulturgut im Leben meiner Frau und mir geworden. Längst sprachen wir nicht mehr von „Kempowski“. Allenfalls mal liebevoll von „Kempi“. Genau genommen war uns „Walter“ so vertraut, als ob wir ihn schon Jahre kennen würden. Kannten wir ja auch. Irgendwie. Und deshalb duzten wir ihn natürlich und nannten ihn Walter. Nicht in Ortenberg. Aber wenn wir unter uns waren und über ihn sprachen.

Signierstunde

Walter also – und nicht Kempowski – zog sich nach der Lesung in einen Hinterraum zurück, wartete darauf, dass möglichst viele Zuhörer noch ein paar Bücher kauften, die er anschließend signieren wollte. Meine Frau und ich wechselten die Plätze, setzten uns an die rechte Seite des in U-Form aufgebauten Auditoriums. Gar so nah am Lesepult wie zuvor bei der Lesung wollten wir nicht sitzen, wenn gleich das Lesepult zum Signierpult werden, wenn die Menge zum Signieren anstehen würde. Eine Mitarbeiterin der Buchhandlung stellte am Lesepult ein frisches Getränk bereit. Meine Frau kaufte noch schnell „Hundstage“ – das wollten wir uns signieren lassen. Oder war es ein anderes Buch? Ich weiß es wirklich nicht mehr.

Signierstunde 2

Und dann kehrt Walter zurück: Aus dem Hinterraum schlurft er – ich weiß, wieder falsch! – durch einen Seitengang, schreitet die vorderste Reihe ab, geht weiter, am Lesepult, das zum Signierpult werden sollte, vorbei… und setzt sich „ins Seitenschiff“, wieder direkt neben meine Frau. Dann wolle er mal loslegen, sagt er, schon wieder flirtend, in ihre Richtung. Die Menge schwenkt auf uns drei zu, Menschen zücken ihre Bücher, Walter seinen Stift, wechselt ein paar freundliche Worte mit jedem, der vor ihm steht, und schreibt alles, was man von ihm wünscht, bereitwillig in seine Werke. Die bestürzte Buchhändlerin, die ihm den „doch viel bequemeren Platz zum Signieren“ am Lesepult noch einmal nahebringen will, schickt er fort. Und kann sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Immer noch Signierstunde

Zugegeben, das hatten wir uns anders gedacht. Ursprünglich wollten wir uns schnell anstellen, die „Hundstage“ signieren lassen und nach Hause fahren. Jetzt sitzen wir neben Walter, können ja schlecht an der Schlange der Wartenden vorbei unser Buch dazwischenschieben, um es signieren zu lassen. Wir sind gezwungen, bis zum Ende der Signierstunde, die hoffentlich keine Stunde dauern wird, zu bleiben, sind quasi gefangen. Walters Gefangene! Dieses Mal nicht nur literarisch, das sind wir seit Jahren. Dieses Mal real. Hier in Ortenberg. Also fügen wir uns in unser Schicksal, warten, bis Walter die Scharen seiner Leser befriedigt hat und sich die andächtig schweigende Gruppe auflöst. Zwischendurch allerdings spüren wir die Blicke der Wartenden. Aller Wartenden!

Wer ist das da neben Kempowski?

Und ihre ungestellten Fragen: Wer die beiden bloß sein mögen, neben die sich Kempowski schon vor der Lesung gesetzt hatte? Mit denen er während des Signierens immer wieder plaudert? Ein bisschen peinlich ist uns das schon, meiner Frau noch mehr als mir. Aber irgendwie haben wir auch unseren Spaß daran. Vielleicht, weil wir ein kleines bisschen so ticken wie Walter. Um dessen Mund spielt die ganze Zeit ein Lächeln, vor allem, wenn er ab und an zu uns hinüberschaut.

Echolot – nicht am Stück lesen!

Endlich also hat sich die Schlange aufgelöst, endlich signiert Walter uns die „Hundstage“. Ob wir „Sirius“ gelesen hätten, das dazugehörige Tagebuch? Noch nicht. Und das Echolot? Das könne man überhaupt nicht am Stück lesen, da würde man verrückt, so Walter. Ja, eine grausame Sammlung, bestätige ich. Das Einzige von ihm, was wir bis heute zwar im Schrank stehen, aber nicht vollständig, erst recht nicht mehrfach gelesen haben. Da wird man noch etwas zu tun haben. Aber nicht am Stück! Da würde man ja verrückt!

Je größer der Autor, desto weniger Text…

Verteidigt hatte ich ihn einmal wegen des Echolots. Was das denn für ein Autor sei, der nur das Vorwort zu einem Mammutwerk schreibe, ansonsten auf Tausenden von Seiten lediglich Schnipselchen hintereinanderstelle. Schnipselchen, die er sich auch noch im Verlauf von Jahren von Menschen habe zuschicken lassen?
Ein großartiger Autor, so ich in diesem Streitgespräch. Der selbst so sehr hinter dem Realen, dem Schrecklichen, den vielen menschlichen Schicksalen zurücktritt, dass seine Anordnung, seine Komposition eben und ein Vorwort ausreichen für ein großes, bedeutendes Werk. Ein großer Autor, der umso größer wird, je weniger er selbst in seinem Werk schreibt! Das ist wahre Kunst.

Einfach nicht verstanden

Mein Gegenüber in diesem Streitgespräch hat mich für verrückt erklärt. Er hat es einfach nicht verstanden. Ganz neu ist mir das ja nicht, wegen Walter für verrückt erklärt zu werden. Oder wahlweise für bekloppt! Ich erinnere mich, wie Walter sein Alter Ego Alexander Sowtschick anworten lassen würde: Er könne gar nicht verstehen, weshalb Menschen eine andere Meinung haben könnten als er selbst. Oder war es gar nicht Sowtschick, sondern Walter selbst, der das gesagt hat? Letztlich ist es egal. Erzählt habe ich Walter von diesem Streitgespräch übrigens nichts. Vielleicht hätte er sich sogar darüber gefreut. Sein ganzes Leben über war er ja darum bemüht, dass seine Werke, seine Schreibkunst die ihr gebührende Anerkennung fanden. Mit uns war er da bei den richtigen gelandet.

Keine Taschenbücher!

„Und was haben Sie da in der Plastiktüte?“ Walter war ein guter Beobachter. Hatte er es an diesem Abend aus „Hundstage“ vorgelesen oder war es mir

schon vorher bekannt? War es sein Alter Ego – denn davon waren wir längst überzeugt – Alexander Sowtschick, der einen glühend heißen Sommer, „Hundstage“ eben, in Norddeutschland verbringt, während seine Frau sich an der Atlantikküste vergnügt, dieser Alexander Sowtschick also, der es grundsätzlich ablehnte, Taschenbücher zu signieren? Aber genau die hatte ich in meiner Plastiktüte: unsere gesammelten Kempowski-Taschenbücher. „Sie signieren doch keine Taschenbücher“, entgegne ich. Walter winkt ab. Ich solle sie mal herausholen.

Wie sehen die denn aus?

„Wie sehen die denn aus“, zeigt er sich ein wenig entsetzt, zumindest aber überrascht. Na ja, die Bücher hatte ich selbst ein paar Mal gelesen, auch meine Frau, dann hatten wir sie Freunden geliehen… Am meisten gelitten aber hatten sie während eines Strandurlaubs, als ich mal wieder eine Gesamtlesung der sechs Chronik-Romane vorgenommen hatte. Und so sehen sie jetzt eben aus. Völlig verlesen. Völlig verbumfeit!
Walter nimmt sich Band für Band, signiert jedes, aber auch jedes Buch. Dass der Schriftsteller so völlig das Gegenteil davon tut, was er ansonsten propagiert – das müsse doch für die Nachwelt erhalten werden. Darüber sollte man sich einmal Gedanken machen, wie das wohl geschehen könne. – Hätte Walter diesen Moment so kommentiert? Ich bin mir sicher.

(Kein) Datum, Äpfelchen und Pferdemädchen

Unsere uralten Ausgaben von „Schöne Aussicht“ und „Herzlich willkommen“ signiert er ohne Datum, auch das Begleitbuch zum „Tadellöser-Film“. Dafür zeichnet er bei „Aus großer Zeit“ auf dem Umschlagdeckel den Turm der Rostocker Kirche nach. Abgeschnitten hätte der Verleger den Turm, um mehr Platz für den Namen des Buches zu gewinnen. Dass behage ihm gar nicht, so ein kurzzeitig etwas mauliger Walter. Schade, dass auf dem glatten Umschlagdeckel Walters Kulizeichnung im Lauf der Jahre mehr und mehr verblasst ist.
Nicht verblasst ist die Widmung in „Hundstage“: Dafür lässt er sich von meiner Frau ihren Namen nennen, schreibt ihn ins Buch mit einem „Für“ davor und einem „!“ dahinter. Kempowski, 18.4.1991. Anschließend malt er ein Äpfelchen darunter. Walter, alter Schwerenöter, willst du etwa andeuten, dass diese „Eva“ die Geschichte mit dem Apfel wert wäre? Ich würde dir sofort zustimmen, habe aber nie recherchiert, ob meine Interpretation, die auch die meiner Frau ist, zutreffen könne. Da soll Walter seinen Alexander mal lieber bei den Pferdemädchen belassen, denen der immer die Ohrläppchen krault…

“Unsere“ Familie Kempowski

Walter reißt mich aus meinen Gedanken: Wenn wir die Bücher so oft gelesen hätten – ach, die Filme hätten wir auch gesehen? –, dann würden wir ja die ganze Familie Kempowski kennen. Wen meint er? Margarete, Karl, Großvater de Bonsac, Großvater Kempowski, Ulla, Robert, Walter, Ullas späteren Mann, den Dänen Sven Sörensen? Na klar! Sogar Dr. Krauses Sonnenbrause würden wir sofort mit ihm trinken! Ach ja, Dr. Krauses Selterswasserfabrik, die nach einem Bombenangriff 1941 abbrennt. Habersack haben verliert! Das sagt Opa Kempowski irgendwann. Mit Dr. Krauses Selterswassersfabrik hat der Satz aber gar nichts zu tun. Auch wenn er noch so schön passt!

Eine Einladung von Walter

Wieder holt mich Walter in die Ortenberger Realität zurück: Na, dann würden wir doch auch irgendwie zur Familie dazugehören. Ob wir nicht Lust hätten, im Haus Kreienhoop in Nartum einmal an einem Workshop teilzunehmen?
Auch wenn die Webseite heute nahelegt, dass in Kempowskis Zuhause erst mit Gründung der Stiftung im Jahr 2005, zwei Jahre vor Kempowskis Tod, Veranstaltungen stattfinden – es gab sie dort schon vorher. Nur eben nicht im Namen der Stiftung.

Nicht Nartum, aber Rostock

Nach Nartum gefahren sind wir nicht. Ein Trauerfall im engsten Familienkreis wenige Tage später, kurze Zeit danach einer von vielen Umzügen, neue Jobs für meine Frau und mich, zwei damals kleine Kinder – es hat einfach nicht gepasst. Aber nach Rostock sind wir gefahren, vor ein paar Jahren, als Walter längst schon gestorben war. „Mal sehen, was wir mit unserem Solidaritätsbeitrag alles so finanziert haben!“ Ein Satz, der von Walter stammen könnte, den er aber, so schätze ich ihn ein, nie gesagt hätte. Und meines Wissens auch nicht hat. Zu sehr hat er seine Heimatstadt geliebt. Wir aber waren enttäuscht! Enttäuscht darüber, dass die Stadt Rostock nur ein winziges Stück im Stadthafen als „Kempowski-Ufer“ ausweist. Da hatten wir mehr erwartet.

Kempowski-Archiv, Rostock

Aber wie das mit Erwartungen eben nun mal so ist: Als wir in Rostock das Kempowski-Archiv besuchen, tauchen wir – dieses Mal ganz anders – tief ein in Walters Welt, entdecken, wie viel von unserem Leben durch diesen Schriftsteller geprägt, zumindest beeinflusst ist. Manchmal bilde ich mir sogar ein, ein ganz kleines, ein winziges Bisschen meines Schreibstils quasi von Walters Brust eingesogen zu haben. Gut, dass auf Majestätsbeleidigung nicht mehr die Todesstrafe steht.

Mein unseliges Versprechen

Hier, im Kempowski-Archiv, bin ich es, der Erwartungen weckt. Erwartungen, die ich bis heute nicht erfüllt habe: Großspurig biete ich einer Mitarbeiterin des Archivs an, eine Kassette mit einem Interview zuzuschicken. Ein kurzes Interview, das ich „ein paar Jahre nach Ortenberg“, mittlerweile als Rundfunkjournalist unterwegs, mit Walter an anderer Stelle geführt hatte. Und das selbstverständlich in meinem Privatarchiv schlummert. Verschickt habe ich diese Kassette bis heute nicht. („Solchen Leuten sollte man aus dem Wege gehen! Das Gesicht merken, wenn man sich wiedersieht ein knappes „Guten Tag“. Und dann nichts wie weg!“ So oder ähnlich würde Walter wohl dazu schreiben.)

Gedenken

An seinem Todestag an einen Menschen zu denken, ist naheliegend und irgendwie üblich. An Walter denken meine Frau und ich oft. Damals, als wir uns gegenseitig aus „Hundstage“ vorlasen. Immer, wenn wir einen der Sprüche und Chiffren aus Walters Büchern „raushauen“: „Wirst sehen, das Rad dreht sich: Wir kommen wieder nach oben!“, zum Beispiel. Einfache Worte, die in schwerer Zeit Hoffnung machten. Und die irgendwie auch heute Wirkung zeigen, zumindest bei uns.
Regelrecht durch „Mark und Bein“ – ein späterer Buchtitel – geht es uns, wenn wir auch nur daran denken, was Walter über das Zermahlen von Zucker zu Puderzucker während seiner Haft in Bautzen schreibt. Ein infernalisches Geräusch, das wir sogar dann hören, wenn unsere kleine Puderzuckermühle nahezu geräuschlos ihre Arbeit verrichtet.

Allgegenwärtig

Wenn Jugendliche mit ihren Mofas an uns vorbeibrausen, denken wir an Sowtschicks „Mofajugend“, wenn Windböen Bäume zerzausen, reden meine Frau oder ich unvermittelt vom „Düwel in de Föhr“. An jeder Autobahnbrücke denken wir an Walter: Er ließ Alexander Sowtschick auf die Idee kommen, kurze Gedichte an Autobahnbrücken zu schreiben. Ja, so übel sind diese Deutschen dann ja vielleicht doch nicht. Zwar haben sie zwei Weltkriege ausgelöst, sind verantwortlich für Millionen von Toten – aber in den letzten Jahren sind sie friedlich. Irgendwie doch ein Volk der Kultur. So oder ähnlich würde Walter schreiben. Vielleicht hat er es auch genau so getan. Ich weiß es nicht mehr. Aber ich merke: Es wird Zeit, mal wieder Kempowski zu lesen. Unbedingt!

Seippel, Lieffen, Semmelrogge

Im Ohr haben wir die schnarrende Stimme von Edda Seippel, die in den Verfilmungen Mutter Grete spielt, sehen den unvergesslichen Karl Lieffen – „Warum geht dieser Mann so krumm, Vater?“ „Weil seine Kinder ihn immer so geärgert haben!“ – , sehen den jungen Martin Semmelrogge als Robert Kempowski. Was hat Robert doch noch stakkatoartig immer wieder wiederholt? Welcher Jazzmusiker hat eine ganze Nacht durchgespielt? Ach ja, da ist ja noch die „Lieselotte von der Pfalz, ein ganz vorzügliches Buch, das man immer wieder lesen“ könne. „Junge, mach den Niggerjazz aus!“ Wer so sprach wie der pensionierte Militär, den die Familie Kempowski während ihrer Harzreise kennenlernte, der stellte sich nicht nur damals in die Ecke des Unrechts. Er steht auch heute noch dort. „Gut dem Dinge!“

Plakat und Interview-Kassette

Das Plakat, das ich nach der Lesung in Ortenberg an der Tür der Sparkasse abgeknibbelt und mitgenommen habe, habe ich bis heute. Auch die Kassette mit meinem Interview. Sie ist vor wenigen Wochen unvermittelt wieder aufgetaucht, fast im wortwörtlichen Sinn. Einem Wasserschaden sei Dank! Kurz bevor der Karton völlig durchgeweicht war, kurz bevor sein Inhalt schwamm und nachhaltigen Schaden nehmen konnte, habe ich ihn entleert. Und darin lag sie: die durch Umzüge verschollene Kassette mit meinem Interview mit Walter. Gut beschriftet. Aber in einem Karton, in den ich vielleicht ohne den Wasserschaden niemals wieder hineingesehen hätte.
Diese Kassette werde ich nun wirklich ans Kempowski-Archiv in Rostock schicken. Das Original! Fest versprochen! Vorher aber muss ich mir das Interview noch einmal anhören, für mich kopieren, auch in den Rest des Bandes hineinhören. Bevor ich die Kassette weitergebe, will ich wissen, was darauf noch enthalten ist.

Grammophon, aber kein Kassettenrekorder

Mein Problem: In unserem Haushalt gibt es, zwar nur zur Zier, aber funktionstüchtig, ein Grammophon, zwei Plattenspieler, zwei Bandmaschinen, wie die großen Spulentonbänder genannt wurden, einen DAT-Rekorder, mehrere CD- und DVD-Player, ja sogar noch einen DVD-Rekorder. Aber einen Kassettenrekorder besitzen wir nicht mehr. Unseren letzten Kassettenrekorder habe ich vor unserem letzten Umzug mit vielen anderen Teilen „meines kleinen Technikmuseums“ – meine Frau spricht von „Elektroschrott“ – verschenkt. Aber trotzdem sei es noch einmal hoch und heilig versprochen: Noch in diesem Jahr bekommen die Rostocker die Kassette!

“Is Walla da?“

Das Schlimmste am Tod sei, dass man dann wohl keine Musik mehr hören könne, hat Walter einmal sinngemäß gesagt. Da sind wir völlig einer Meinung. Auf der Rückseite einer Schallplatte eines meiner Lieblingsmusiker – zu sagen, wen ich meine, würde jetzt den Rahmen sprengen – befindet sich eine englischsprachige Rezension, die mit den Worten schließt: „Glad I wrote it!“ Diese Formulierung habe ich schon einmal geklaut, als ich über den Musiker Barry McGuire schrieb. Gern würde ich sie hier wiederholen. Aber zu Walter Kempowski würde sie nicht passen. Vielleicht passt es so: „Is Walla da?“ Ja, Walter ist da! Gott sei Dank! Und das ist das Größte. Das ist „Tadellöser und Wolff“! Mindestens!

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

Kommentare

5 Kommentare

Gerit Decke-K.

Lieber Herr Depta,

vielen Dank für diese schönen und lebendigen Erinnerungen.

Walter Kempowski fehlt so sehr.

An jedem 5. Oktober ist mir wehmütig.

Und denke, wieso ist er nicht stärker präsent in der deutschen Öffentlichkeit, bei den Deutschen.

Wo er sich so um sie verdient gemacht hat ein Leben lang.

Unermüdlich.
Unbeirrt.
Glasklar.

Oft denke ich, was er jetzt schreiben würde, wie kommentieren, was der Zeitgeist wieder ausheckt.

Und wie man sich vor dessen Griff versteckt oder zumindest schützt.

Walter Kempowskis Texte sind mir ein Zuhause.

Man kann darin wohnen.

Sie sind weise und lebensklug.

Er war und ist seiner Zeit voraus.

In so vieler Hinsicht.

Er ist ein Avantgardist.

Ich finde seine Texte gerade jetzt so immens wichtig.

Man kann die Welt darin erkennen.

Und wunderbar viel lernen.

Und schmunzeln.

Er ist ein großer Lehrer.

Was er über Schule schreibt, wie er Kinder sieht, was er sich ausgedacht hat, wie er sie versteht und welche Güte er hat, das ist beeindruckend und prägend und weise.

Im Grunde unterrichtet er über seinen Tod hinaus.

Momentan, seit Monaten lese ich nur Kempowski.

Immer wieder die Tagebücher, seine(n) Sirius, Alkor, Hamit, Somnia.

Was wären wir ohne ihn.

Er hat vielfältige Spuren hinterlassen.

Ich danke Ihnen herzlich für die Lebendigkeit und Warmherzigkeit Ihrer Erinnerungen.

Es hat mir großes Vergnügen bereitet.

Herzliche Grüße

Gerit Decke-K.

Dani Terbuyken

Herzlichen Dank für den wunderbaren Bericht. Ich war letzten Sommer in Nartum und habe mir damit einen großen Kempowski Wunsch erfüllt. Ich denke so oft daran… Traurig war ich in Göttingen, wo ich so gar keine Spuren fand. Das müsste man ändern! Wie schön, dass er in uns allen so fort lebt. Er hat uns geprägt und lebt so in uns weiter. Mehr kann man nicht erreichen in einem
Menschenleben.

Kirsten Bühler

„Is Walla da?“, ja, das ist er auch hier in Kopenhagen. Danke für diese Worte, die Erinnerungen & Dankbarkeit wecken ❤ Gerade heute habe ich an ihn denken müssen & an die Bedeutung, die die Begegnung mit ihm & seinem Werk für mein Leben gehabt hat.

Simone Neteler

Lieber Herr Depta,
Ihren Text lese ich wie eine Zeitreise! Vielen Dank für diese Erinnerungen, in die man eintaucht, als wäre es gestern gewesen. In einem Punkt bin ich sicher: Nartum wäre für Sie eine Reise wert. Vielleicht schon am 31.10.2021?! Da feiern wir das 50jährige Erscheinen von »Tadellöser & Wolff«. Herzliche Grüße
Simone Neteler

KF Kempowski

Lieber Herr Depta,
gestern habe ich den ganzen Tag überlegt, ob ich den Todestag von WK irgendwo erwähnen soll.
Aber Ihr Beitrag macht das viel besser. Kempowski wird sehr lebendig, herzlichen Dank dafür. Er hätte allerdings sowohl die DDR-Schriftstellerin als auch den Musiker benannt.
Fahren Sie auch nach Nartum.
KF Kempowski


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