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Schreien hilft nicht – anpacken schon eher (6. Oktober)

Der alte Mann tut mir nichts als leid! Multiple Sklerose. Seit 20 Jahren an den Rollstuhl gefesselt. Die rechte Hand ist kraftlos. Sich selbst die Klamotten anziehen? Unmöglich. Ohne Hilfe essen? Wenn ihm jemand alles, was zerteilt werden muss, vorher in kleine Stücke schneidet, dann ja. Ansonsten gilt: immer auf Hilfe angewiesen. Wenn ich nur an den Toilettengang denke –Stolz und Eitelkeit kann sich jemand, der so vom Leben gezeichnet wurde, ganz sicher nicht leisten. Das Leben lehrt Demut. Was für ein grausamer Satz. Aber einer, der wahr ist.

Schreien hilft nicht

Ursprünglich wollte ich einen Verwandten im Seniorenheim besuchen. Dabei lernte ich diesen Multiple Sklerose-Patienten. Für mich überraschend: Er klagt nicht, er jammert nicht, er hadert nicht mit seinem Schicksal. Im Gegenteil: Eine tiefe, innere Ruhe strahlt er aus. „Glaube mir“ – er duzt mich sofort – „glaube mir, wenn Schreien helfen würde, dann würde ich den ganzen Tag lang schreien. Und frag mich nicht, wie laut. Aber es hilft nichts zu schreien!“
Eine Lebenshaltung, die ich teile. Wie oft habe ich mich über Kolleginnen und Kollegen, über Vorgesetzte, aber auch über die Eltern Anderer geärgert, die bei der kleinsten Kleinigkeit losbrüllten. So, als ob sie dadurch etwas besser machen würden. Schreien mag zwar der Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit sein. Aber es verbessert nichts an einer Situation. Nie und nimmer. Weil es aber oft genug, gerade bei kleinen Kinderseelen, auch Narben hinterlässt, bewirkt das unnötige Gebrüll oft sogar das Gegenteil.

Es könnte schlimmer kommen…

„Es könnte schlimmer kommen“, reißt mich der Mann aus meinen Gedanken. Ein Freund habe Knochenkrebs. Unglaubliche Schmerzen! Da sei er mit seiner Multiplen Sklerose doch noch wirklich gut dran. Seine Schmerzen hielten sich in Grenzen, noch funktioniere der Kopf. Und so lange er mit seinem elektrischen Rollstuhl noch durch die Straßen fahren könne, solange er seine Kontakte zur Außenwelt halten könne, solange sei alles in Ordnung. Ja, es könnte schlimmer kommen.

… und es kam schlimmer

Vier Wochen später war ich wieder im Seniorenheim. Warum auch immer: Bei meinem Verwandten erkundigte ich mich auch nach dem alten Mann. Und hörte: Es war schlimmer gekommen. Keine Verschlimmerung

seines Gesundheitszustandes, nichts Körperliches. Die Batterie an seinem Rolli lädt kaum noch nach. Die Telefonate mit dem Kundendienst waren eine einzige Quälerei: endloses Verharren in der Warteschleife. Dann endlich: ohne Monteurbesuch könne man da gar nichts machen. Bis der aber kommen kann, vergehen Wochen. Was bleibt, ist die Ferndiagnose: Der Akku ist defekt, muss ersetzt werden. Eine Auskunft, da sie ohne Monteurbesuch erfolgt, natürlich ohne Gewähr. Und auf eigenes Risiko und eigene Kosten, falls es eben doch nicht am Akku liegt.

Erst einmal kein Happy End

Mir wäre lieb, ich könnte nun von einem Happy End berichtet. Kann ich aber nicht. Bis der Akku geliefert wird, dauert es Wochen. Dann die Erkenntnis: der falsche Akku! Fehler im Werk, kann passieren, so der Kundendienst nach endlosem Ausharren in der Warteschleife. Sie könnten einen neuen Akku schicken. Portofrei. Als kleine Gegenleistung fürs Warten. Auch das dauert. Dann die bittere Erkenntnis: Es lag wohl nicht am Akku. So ein Pech: Der Monteur hat jetzt erst einmal drei Wochen Urlaub.

Umgang mit Hilfsbedürftigen

Der alte Mann tut mir leid. Obwohl mich das alles nichts angeht, hänge ich mich rein, rufe beim Hersteller an, lasse mich mit dem Geschäftsführer verbinden, mache Druck. Lege mich weit aus dem Fenster, erkläre ihm, dass der alte Mann mittlerweile seit mehr als drei Monaten mit seinem Rollstuhl gerade mal noch bis zum Speisesaal uns zurück kommt. Dann ist der Akku leer. Ausflüge in benachbarte Straßen, Eindrücke aufnehmen, Kontakte halten? Das ist vorbei. Jetzt also nicht nur an den Rollstuhl gefesselt, sondern auch noch eingesperrt. Auf dem besten Weg zur Vereinsamung. Weil es andere nicht interessiert. Weil alte Leute nicht so wichtig sind? Weil sie keine Lobby haben?

Das Leben ist kein Ponyhof

Seine Monteure seien im Dauereinsatz. Aber er wolle sehen, was sich machen lässt, so der Geschäftsführer. Schon am nächsten Tag steht ein Monteur auf der Matte, fünf Minuten Arbeit, alle Probleme gelöst. Ein verschmutzter Kontakt an einer Stelle, wo man es nicht vermutet hätte. Kleines Problem, große Ursache. Aber jetzt ist ja alles wieder gut. Dass das alles so lange gedauert hat? Achselzucken. Dass der alte Mann drei lange Monate warten musste? Was interessiert ihn das? Das Leben ist kein Ponyhof! Er mache auch nur seinen Job.

Böses Kalkül?

Ich bin stinksauer, als ich davon höre. Üble Gedanken kommen in mir hoch: War es Glück und Zufall, dass der Monteur den Fehler so schnell gefunden hat? Oder war es vielleicht auch Erfahrung, weil man dieses Problem kennt, aber nicht dauerhaft beseitigt? Weil man mit Wartung und mit Monteurstunden mehr Geld verdient als beim Verkauf der Rollstühle? Böses Kalkül mit der Hilfsbedürftigkeit? Nein, ich will da nichts unterstellen, schüttele mich und versuche, diese Gedanken wegzudrängen. Was kann ich dafür, dass mich diese Gedanken überfallen? Die Menschheit ist nun mal schlecht. Und auch ich mache nur meinen Job. Wie der Monteur. Mache ich meinen Job… als Mensch?

Mein schlechtes Gewissen

Dabei habe ich sogar ein schlechtes Gewissen: Für den alten Mann hat mein Eingreifen zwar den gesamten Prozess beschleunigt. Aber weil er vorgezogen, sein Fall dazwischengeschoben wurde, rückten alle nachfolgenden Fälle etwas zurück. Gerecht ist das nicht. Und gut auch nicht.
Also hadere ich weiter mit mir. Ja, natürlich, es könnte schlimmer kommen. Und deshalb freue mich, dass der alte Mann wieder aufblüht, wieder seine Runden drehen kann. Dass er trotz seiner schweren Krankheit Lebensfreude empfindet.

Anpacken

Doch mir kommt ein weiterer Gedanke: Ketten reißen ja bekanntlich am schwächsten Glied, an der schwächsten Stelle. Deshalb sind genau die, die am meisten Hilfe benötigen, der Gradmesser für die Qualität unserer Gesellschaft. Denn das hat auch etwas mit Respekt zu tun. Respekt vor dem Alter, Respekt vor einer Lebensleistung. Auf andere, auf Institutionen, auf den Staat zu warten, hilft nichts. Genauso wenig wie zu schreien. Das Einzige was hilft: selbst anpacken, am besten jeden Tag. Und dadurch unsere Welt jeden Tag ein kleines bisschen besser zu machen.

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

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