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16. Januar, Erik Lesser – Weltklasse

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

16. Januar, Erik Lesser – Weltklasse

Passiert ist es bereits Mitte Januar vor fünf Jahren – aber wenn ich daran denke, bekomme ich sofort wieder Gänsehaut. Tatort: Ruhpolding. Oder, wenn Sie wollen: mein Wohnzimmer, Glotzophonium. Dort erwarte ich, seit vielen Jahren Biathlonfan, den Massenstart der Männer in Ruhpolding. 30 Athleten werden in wenigen Minuten an den Start gehen. Als 30., als Letzter gerade noch ins Teilnehmerfeld geschlüpft: der Deutsche Erik Lesser. Ein unglaublich sympathischer Kerl, wenn man den Fernsehbildern und Interviews glauben darf. Einer, der das Herz am rechten Fleck zu haben scheint. Das Problem nur: Lesser, immerhin amtierender Verfolgungsweltmeister, läuft schon den ganzen Winter über seiner Form hinterher. Nur bei einem einzigen Rennen hat er es in dieser Saison unter die besten 15 geschafft – mindestens diesen Platz muss er aber noch einmal erreichen. Sonst hat er die internen Vorgaben für die Qualifikation zur demnächst anstehenden Weltmeisterschaft verpasst. Und muss zu Hause bleiben. Höchststrafe! Das Schlimmste, was es für einen Sportler geben kann. Und dieser Massenstart das letzte Rennen vor der Weltmeisterschaft ist, ist er auch seine letzte Chance.

Schon kurz nach dem Start hört Lesser den Stadionsprecher, der genau das verkündet, was Fans im Stadion und am Bildschirm mit Entsetzen sehen: Lesser hängt abgeschlagen dem Feld schon ein ganzes Stück hinterher. Na prima! Wie soll das jetzt noch was werden mit „mindestens Platz 15“, also mit der WM-Norm? „Erik, Junge, komm. Das MUSS einfach was werden!“
Dann kommt das erste Schießen. Die Hälfte der Konkurrenz schießt Fehler, muss Strafrunden laufen. Und während die meisten Konkurrenten noch munter in der Strafrunde kreiseln, ist endlich auch Lesser am Schießstand. Und trifft alle Scheiben, liegt überraschend auf Platz 15. „Erik, Erik! Mach es, Junge!“ Längst halte ich es im Sessel nicht mehr aus, stehe ich vor dem Fernseher, feuere – völlig irrational, denn er kann es eh nicht hören – den Biathleten an. Aber in diesem Moment bin ich einer von Hunderttausenden an den Bildschirmen, von Tausenden im Stadion, die über Lessers Leistung völlig aus dem Häuschen sind. Geht da doch noch was? Platz 15! Das wäre es doch, das wäre der ersehnte Platz für die WM-Qualifikation.

Ich versuche mich zu bremsen. Denn noch kommen drei Schießeinlagen. Da wird auch Lesser seine Fehler machen. Zumal das Vorlaufen auf vordere Plätze, das Aufholen und Überholen, das Schließen von Lücken jede Menge Kraft kosten. Alte Biathlonweisheit: Wer zu schnell läuft, wer überzieht, bezahlt dafür beim nächsten Schießen. Mit Fehlern. Doch genau das tut Lesser nicht. Plötzlich, völlig überraschend, liegt er auf Platz drei, versucht sogar noch die Lücke zu den zwei Führenden möglichst klein zu halten. Doch da vorne läuft Martin Fourcade. Der lässt sich die Butter nicht mehr vom Brot nehmen. Nicht beim letzten Schießen! Also: Jetzt bloß nicht überziehen. Noch einmal: Übermäßige Kraftakte rächen sich im Biathlon, führen zu Fehlern beim Schießen. Immer!
Dieses Mal nicht! Lesser trifft auch beim letzten Schießen alle Scheiben! Die beiden bis dahin Führenden aber, eben auch jener Martin Fourcade, schießen Fehler. Die Sensation ist perfekt: Erik Lesser, ursprünglich Letzter, kommt als Erster ins Ziel. Das Stadion gleicht einem Tollhaus! Ich brülle und tobe, freue mich riesig. Und habe heute, vier Jahre später, schon wieder Gänsehaut. Großartig, Erik!

Im Nachhinein fällt mir dazu ein: Niemals sollte man jemanden abschreiben. Niemals sagen, der bringt das nicht! Den kann ich nicht brauchen. Die Nerven behalten, fest auf sich selbst vertrauen – wer das kann, der kann auch Dinge vollbringen, die niemand von ihm erwartet. Der kann den alten Bibelspruch bestätigen: Die Letzten werden die Ersten sein! Und das gilt nicht nur beim Biathlon!
Nachtrag: Heute gibt es für Männer und Frauen den nächsten Massenstart. Erik Lesser ist wieder dabei. Und ich auch!

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