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Unternehmen Barbarossa – so schafft man Misstrauen, Angst und Hass (22. Juni)

Und schon wieder schreibe ich über einen Tag, von dem ich wünsche, es hätte ihn nie gegeben: Am 22. Juni 1941 begann das, was mein Großvater wohl „Russlandfeldzug“ genannt hat: Das „Unternehmen Barbarossa“ bedeutet den Beginn eines Krieges, den Hitler-Deutschland gegen

die Sowjetunion Stalins begannt. Welche Euphemismen! „Russlandfeldzug“ macht den Gegner klein, suggeriert, dass der Angriff nach kurzer Zeit beendet sei, weil, na klar, der Sieg der deutschen Truppen gewiss sei. Und Barbarossa, der Rotbart, wie der aus dem Italienischen stammende „Kosename“ übersetzt heißt, erinnert an den legendären Staufenkaiser Friedrich I. Der war zum Ende des zwölften Jahrhunderts Kaiser des

Euphemismen

römisch-deutschen Reichs. Genauer gesagt: des heiligen römischen Reiches deutscher Nationen. So ausgedehnt und mächtig wie das antike römische Reich, geführt von Deutschen und natürlich heilig, also in einer besonderen Beziehung zu Gott stehend, so der Subtext. Was kann an einem derartigen Feldzug schlecht sein, was soll da passieren, nachdem die Niederlande, Belgien und Frankreich in einem Blitzkrieg besetzt waren. Wer sollte diese deutsche Armee eigentlich aufhalten? Stalin und seine wenigen Divisionen?

Mein Kampf: Angriff lange geplant

Bei der Recherche zum „Unternehmen Barbarossa“ überlief mich ein Schauer nach dem anderen. Für mich als jungen Menschen ist es unvorstellbar, wie Politiker, Machtmenschen der übelsten Sorte vor 80 Jahren getickt haben. Dabei ist es nicht die Blindheit und Blauäugigkeit, auch nicht der Siegesrausch, in den sie sich hineinsteigerten. Da musste nichts Blauäugiges sein. Hitler hatte seine Pläne vom „Lebensraum im Osten“ ja bereits 1925 in „Mein Kampf“ niedergeschrieben. Und wenn ich meinem Großvater glauben darf, erhielt jedes frisch verheiratete Ehepaar auf dem Standesamt ein Exemplar davon geschenkt, damals, als die Nazis die Macht übernommen hatten. Bei meinen Großeltern stand das Buch neben der Familienbibel im Wohnzimmerschrank. Nie gelesen, wie beide später versicherten. Ob’s stimmt? Ich weiß es nicht. Aber wahrscheinlich haben diese einfachen Leutchen, die körperlich schwer arbeiteten und wohl abends rechtschaffen erschöpft waren, überhaupt nichts gelesen. Ob das als Entschuldigung reicht? Ich weiß es nicht.

Geplanter Genozid

Klar ist: Die Sowjetunion war 1922 von den Bolschewiki gegründet worden. Und Hitler sah im Zusammenspiel von Bolschewismus und Judentum die größte Gefahr für seine Weltherrschaft, schaffte hier ein Feindbild, das nahezu alles zu rechtfertigen schien. Und genau hier liegt mein Schaudern: Von Anfang an war der „Russlandfeldzug“ als Genozid geplant. Als langandauernder Kampf, der die Vernichtung von Millionen von Menschen zum Ziel hatte. Nicht als Kollateralschaden in Kauf nahm, sondern zum erklärten Ziel ausrief. Heilig? Quasi in enger Kooperation mit dem lieben Gott? Die Geschichte ist voll davon, wie die Religion für politische Ziele uminterpretiert und


instrumentalisiert wird. Die Ermordung von Juden, weil Gott das gutheißt oder sogar so will? Auch die Ambitionen der Kreuzritter waren schon von einem „deus vult“, Gott will das so, begleitet. Ich sage zu einem Gott, der Grausamkeiten ausdrücklich will, schlichtweg „nein, danke“. So einen Gott will ich nicht, brauche ich auch nicht. Die Menschen, die ihn mir so verkaufen, erst recht nicht.

Römisches Reich?

Heilig also nicht! Römisches Reich? Mir ist bis heute nicht klar, wieso im Geschichtsunterricht meiner Schulzeit dieses Reich so verklärt wurde. Jeder Meter Land, den die ach-so-glorreichen Römer eroberten, bedeutete, dass sie andere Menschen von dort vertrieben. Oder versklavten, ihnen die Freiheit nahmen. Oder massakrierten, wenn die weder das eine, noch das andere wollten. Ist dies nicht bei jedem Reich so? Nur weil es die ach-so-tollen Römer waren, werden deren menschenverachtenden Eroberungszüge gutgeheißen? Da hätte ich ganz gerne einmal die Meinung der Sueben, Kelten, Häduern, Helvetiern und vieler anderer unterjochter Völker gehört. Es gibt zwei Antworten, warum die alten Römer so verklärt werden. Die eine ist, weil sie eine gewisse Rechtstaatlichkeit einführten – außer wenn sie mal eben jemanden mit 23 Dolchstichen, mal auch mit mehr, mal mit weniger, aus dem Amt entfernten; die zweite lautet, weil Geschichtsschreibung immer eine Geschichte der Sieger ist. Weil sie die verklärt, die anderen den Schädel eingeschlagen haben und selbst keine oder nur wenige Blessuren davontragen. Das ist menschlich. Aber ist das erstrebenswert?

300 Fürstentümer

Bleiben die deutschen Nationen. Was also Romulus und Remus mit ihren Nachfahren nicht schafften, wozu also die Südländer nicht in der Lage waren, dass können die Nordländer deutlich besser. Deutsche Nationen! Bis 1806 trug man stolz den Titel „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nationen“ und meinte damit mehr oder weniger ganz Westeuropa. Wenn man aber bedenkt, dass allein das heutige Deutschland nach dem 30jährigen Krieg aus rund 300 selbstständigen Fürstentümern bestand, die sich im Alltag einen Dreck darum scherten, was andere meinten – ganz so geeint war schon der Kern dieses Reiches nicht. Und dann will man sich die Vorherrschaft im Osten Europas sichern? Und im nächsten Schritt die Weltherrschaft? „Wie du das immer drehst und wendest“ und „So kann man das aber nicht sehen“, war die häufigen Sätze, die ich im Geschichtsunterricht zu hören bekam, wenn ich Weltereignisse „gegen den Strich bürstete“.

Gezielter Genozid

Zurück zu meinem Schaudern: Sie müssen gar nicht allzu sehr in die Tiefe gehen – schon auf Wikipedia bekommen Sie einen Eindruck davon, wie generalstabsmäßig die Vernichtung von Menschen im Osten geplant war. Wie getäuscht wurde, betrogen, in Sicherheit gewogen, um dann blitzartig das wahre Gesicht zu zeigen. Heute am 22. Juni 1941. Die Berichte über Massenexekutionen, in Brand gesetzte Dörfer und vieles mehr erspare ich Ihnen hier. Auch, wie man bereits im Vorfeld deutsche Soldaten darauf vorbereitete, welche Grausamkeiten sie später zu begehen hatten.

Operation Bagration

Dann kam der Winter, dann kam Stalingrad und dann kam der 22. Juni 1944: Ganz bewusst und symbolträchtig legten die Sowjets den Tag, an dem sie ihre Großoffensive gegen die deutsche Heeresgruppe Mitte begannen, auf den 22. Juni. Exakt drei Jahre nach dem Start des Unternehmens Barbarossa starteten die Sowjets ihre Operation Bagration. Namensgeber war der über viele Jahre erfolgreiche Kommandeur und Befehlshaber Pjotr Iwanowitsch Bagration, von den Russen auch liebevoll als Bogration bezeichnet, was so viel wie „Er ist der Gott des Heeres“ bedeuten soll. Auch hier erspare ich Ihnen Bilder von grausamen Gemetzeln, Erschießungen, Hinrichtungen, frierenden und erfrierenden, hungernden und verhungernden Soldaten und immer und immer wieder auch Zivilisten.

Kann man es verdenken, dass Grausamkeiten mit Grausamkeiten vergolten wurden? Dass eine sowjetische Nation, die 27 Millionen Kriegstote zu beklagen hat, Gleiches mit Gleichem vergilt? Auch wenn ich das für falsch halte, auch wenn ein Unrecht nicht das Recht auf ein anderes Unrecht gibt – zumindest ein bisschen kann ich nachvollziehen, das erlittenes Unrecht und Entsetzen nach Vergeltung schreien. So als müsse die zweite von zwei Schalen einer Waage gefüllt werden, um die Waage wieder in ein Gleichgewicht zu bringen. So ticken Menschen. Viele. Oft. Viel zu oft.

Tag der Trauer

In der russischen Erinnerungskultur steht der 9. Mai an erster Stelle: Am 9. Mai 1945 feiern die Russen den Sieg über Hitlerdeutschland, feiern das Kriegsende. Und mit ihnen feiern dies viele Staaten, die dem ehemaligen Sowjetreich angehörten. Sie feiern am 9. Mai, so wie Westeuropa, aber auch Tschechen und Slowaken den 8. Mai als Tag des Kriegsendes feiern. Bei den einen schwiegen die Waffen eben etwas eher als bei den anderen.

Für die russische Erinnerungskultur spielt aber der 22. Juni eine fast ebenso wichtige Rolle: Seit 1996 gilt dieser Tag als „Tag der Trauer und Erinnerung“. Es ist der Tag, an dem vor allem Russen, Belarussen und Ukrainer die Friedhöfe besuchen, Kerzen anzünden und ihrer Kriegstoten gedenken. Hochrangige Politiker bis hin zum Staatspräsidenten legen an den vielen Ehrenmalen im Land Kränze nieder, die Nationalflagge weht auf Halbmast, Gottesdienste stehen ganz im Zeichen der Trauer. Ähnlich, wie das bei uns am Volkstrauertag, also im November der Fall ist.

Weißer Flecken unserer Erinnerungskultur

Wenn Sie Lust und Zeit haben, verfolgen Sie heute einmal die Berichterstattung in den Medien oder sprechen Sie mit Freunden und Bekannten. Selbst wenn der heutige Bundespräsident und damalige Außenminister Franz-Walter Steinmeier bereits vor fünf Jahren, am 75. Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, den „Tag der Trauer“ als „weißen Flecken in der eigenen Gedenkkultur“ bezeichnet hat – passiert ist bei uns seitdem nichts. Auch nicht, obwohl Steinmeier mit seiner Haltung nicht alleinsteht: Der ehemalige Brandenburgische Landesvater und Bundesvorsitzende der SPD, Matthias Platzeck, hält den 22. Juni sogar für einen „Tag der Weltgeschichte“ – zurecht, meine ich. Aber wer spricht bei uns über diesen Tag?

Der Mensch als geschichtliches Wesen

Politisch halte ich ihn sogar für ein Schlüsselerlebnis der Geschichte zwischen Ost und West: Am 22. Juni 1941 wurde offenbar, mit welcher Hinterlist, mit welchen Täuschungen, welcher betrügerischen Energie und aufgrund ganz konkreter, jahrelanger Vorbereitungen und Planungen Hitler-Deutschland die Sowjetunion überfiel. Drei Jahre später schlägt der Gegner unbarmherzig zurück. Was bleibt, sind die bösen Deutschen auf der einen, die bösen Russen auf der anderen Seite.

Wieder einmal greift der Satz, dass der Mensch ein geschichtliches Wesen ist. Was er erlebt hat, prägt sein weiteres Denken und Handeln. Allein schon aus Selbstschutz, vielleicht auch aus anderen Gründen, heißt es wohl: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht Was übrigens, um das klarzustellen, das Vertrauen für beide Seiten erschwert. Für beide Seiten gilt auch die Frage: Wie lange dauert es, dass geschlagene Wunden so weit verheilen, bis man sie nicht mehr im Alltag spürt? Wie lange dauert es, bis die kollektiven Erfahrungen eines Volkes so sehr in Vergessenheit geraten, dass man dem Gegner von einst wieder vertrauensvoll gegenübertreten kann? Mich wundert nicht, dass es zurzeit einen Rückfall in den Kalten Krieg zu geben scheint. Zu groß sind die Ängste vor dem jeweils anderen. Zu ausgeprägt ist das Verlangen, sich – möglichst auch präventiv – davor zu schützen, von dem jeweils anderen wieder bedrängt zu werden.

Gemeinsam trauern – Misstrauen abbauen

Wenn heute Russen und ehemalige Sowjetsatelliten den „Tag der Trauer“ begehen und um IHRE Kriegstoten trauern, trauern sie allein. So wie wir im November am Volkstrauertag um UNSERE Kriegstoten trauern. Ein Schritt, die trennenden Gräben zuzuschütten, Misstrauen abzubauen und – auch wenn es lange dauert – neues Vertrauen wieder aufzubauen, wäre, dem heutigen „Tag der Trauer“ auch bei uns einen größeren Stellenwert zu geben. Der Tag, der auch für Hitler-Deutschland der Anfang vom Ende war – ein Ende, bis zu dem in Europa rund 70 Millionen Menschen ihr Leben verloren.
Dieser Artikel soll ein Beitrag dazu sein, den 22. Juni in das politische Bewusstsein zu rücken und ihm in unserem Erinnerungskalender einen größeren Platz zu geben. Eine Erinnerung nicht nur an Krieg, an Unrecht und an Tote, sondern vor allem daran, dass bestehende Konflikte befriedet werden müssen, dass Spannungen und tief verwurzeltes Misstrauen abgebaut werden müssen, um einen stabilen Frieden zu erreichen. Und dass alles zu tun ist, um Konfrontationen wie damals nie wieder Wirklichkeit werden zu lassen.

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

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