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John Lennon – Vorbild weit über den Tod hinaus (8. Dezember)

8.12.1973: Das japanische Sapporo erlebt den definitiv letzten Auftritt „der Callas“. Maria Callas, weltberühmte Sopranistin, auf Abschiedstournee um die Welt. In Sapporo feiert sie ihren letzten umjubelten Auftritt. Und die Welt der Klassik feiert mit.

Am selben Tag, sieben Jahre später, hat ein anderer seinen letzten Auftritt. Seinen allerletzten. Denn als er am New Yorker Central Park sein Hotel betreten will, fallen fünf Schüsse. Der Mann bricht zusammen und stirbt auf dem Transport ins Krankenhaus. Ein Mann, der wie keiner vor ihm das Leben und Denken junger Menschen beeinflusst hat. John Lennon, einer der vier Beatles, ist tot. Und die Rockwelt trauert.

Schickwelle

Unglaublich, was der Tod eines Idols auslösen kann. Überall auf der Welt treffen sich damals, am 8. Dezember 1980 un an den Tagen danach, junge und mittlerweile älter gewordene Menschen. Sie zünden Kerzen an, singen Lennon-Songs und… sie beten für John. Beten für einen Mann, der in den 1960ern gesagt hatte, seine Beatles seien populärer als Jesus und die Kirche drohe, ihrem Ende entgegenzugehen – im Gegensatz zur Rockmusik. Ans Kreuz geschlagen hätten sie ihn damals am liebsten, um im Bild zu bleiben. Beatlessongs fanden bei verschiedenen Radiostationen nicht mehr statt. Im frommen amerikanischen Süden gab es sogar öffentliche Verbrennungen von Beatlesplatten.

Populärer als Jesus

Lennons Satz war aus dem Zusammenhang gerissen. Was aussah wie eine Aussage zum Glauben an Gott, war in Wirklichkeit eine Anfrage an die Kirche: Wird es sie auf Dauer geben, wenn sie sich weiterhin so präsentiert, wie sie das nun einmal tut? 50 Jahre später scheint diese Frage zumindest noch genauso relevant zu sein wie damals. Was sexuellen Missbrauch durch kirchliche Angestellte und Würdenträger anbelangt, was Finanzskandale und wohl auch „undurchschaubare Machtstrukturen“ anbelangt, ist die Kirche zweifellos mitten in der Welt angekommen. Da ist sie nur allzu menschlich. Leider. Denn von einer Institution, die die beste Botschaft der Welt, nämlich Frieden auf Erden, verkündet, erwartet man mehr als das Feststecken in menschlichen Unzulänglichkeiten.

Kirche am Ende?

Natürlich kann man theologisch-dogmatisch argumentieren und blauäugig sagen: „Wir haben die Zusicherung: Die Pforten der Hölle werden sie nie verschlingen!“ Aber Dogmatik ist eine Theorie. Und das Leben findet nicht in der Theorie, sondern in Praxis statt. Zumindest unter diesem Gesichtspunkt war Lennons Anfrage mehr als berechtigt. Und sie ist es immer noch. Allerdings wird sie, zumindest bei uns in Deutschland, in einem Maße beantwortet, wie man es damals, als Lennon diesen berüchtigten Satz sagte, kaum für möglich gehalten hätte: Dass man sich Termine geben lassen muss, um sich in die Scharen derjenigen einzureihen, die dieser Kirche den Rücken kehren wollen, klingt abenteuerlich. Ein Massenexodus, um die ungeheure Austrittswelle einmal kirchensprachlich zu beschreiben. Unglaublich. Und das alles wegen Gottes Bodenpersonals, das zwar Sonntag für Sonntag den moralinsauren Finger hebt, aber nicht besser ist als Otto Normalverbraucher auch. (Hinzufügen will ich der Fairness halber: auch nicht schlechter!)

Mehr Beatleshörer oder mehr Bibelleser?

Das alles deutet an, dass die Frage, wie lange die Kirche noch gesellschaftsrelevant ist, einer Beantwortung entgegengeht. Was man von der Rockmusik, die Lennon als Vergleich bemühte, nun nicht gerade sagen

kann. Ob allerdings die Beatles immer noch berühmter sind als Jesus – ein provokanter Satz, den man so nicht evaluieren kann. Aber man könnte einmal vergleichen, wie viele Menschen weltweit eine Beatlesplatte auflegen und wie viele in der Bibel lesen. Aber wäre das überhaupt im Sinne von John Lennon? Wohl kaum.

Imagine

„Stell dir vor, es gäbe keine Religion mehr“, wagte Lennon ein paar Jahre später zu träumen. Manch ein Katholik wertete das als Frontalangriff. Ich habe nie verstanden, wieso. Ich habe mal gelernt: Nach biblischer Vorstellung kommt irgendwann das Reich Gottes. Wann, weiß niemand. Niemand kann es herbeizwingen. Aber jeder kann ein bisschen daran mitarbeiten, dass es kommt. Die Religion ist eine Hilfe auf dem Weg zu Gott. Wenn John Lennon von einer Welt träumt, in der Gehhilfen wie die Religion, diese Krücken also, nicht mehr notwendig sind, dann müssten gerade besonders fromme Menschen doch eigentlich „halleluja“ schreien. Oder zumindest „Amen“, was ja übersetzt nichts anderes heißt als „so sei es“.

Keine Krücken mehr nötig

Ist das denn nicht der große Traum, die große Hoffnung zumindest der Gläubigen, dass es nach dem Leben auf dieser Erde noch ein weiteres in der Nähe Gottes gibt? Eines, in dem es kein Leid, keine Not, kein Elend mehr gibt? Eines, in dem die menschliche Begrenztheit, also auch die Dimension der Zeit, keinerlei Bedeutung mehr hat? Für mich ist Imagine immer ein sehr frommer Song gewesen. Was mich auch nicht weiter verwunderte, als ich irgendwann einmal aufschnappte, dass John Lennon in einer Buchhandlung auch, na ja, sagen wir mal „religiöse Fachliteratur“ geklaut habe. Damals, als er noch weit davon entfernt war, ein bekannter Musiker zu werden.

Vatikan schließt Frieden mit Lennon

Angemerkt sei zumindest, dass der Vatikan über seine Hausverlautbarungen „L’Osservatore Romano“ 2010 seinen Frieden mit John Lennon schloss. Wenn man das mit vermeintlichen Ketzern wie Galileo Galilei und anderen vergleicht, die mehrere Jahrhunderte auf ihre Rehabilitierung warten mussten, war das nur ein Wimpernschlag. Vergleicht man diese Zeitspanne damit, wie schnell Bob Dylan vom „Verführer einer ganzen Generation“ zum gefeierten Mitwirkenden beim Eucharistischen Kongress in Bologna 1997 wurde, dauerte es bis zum Friedensschluss mit John Lennon fast schon eine Ewigkeit. Bob Dylan singt vor Papst Johannes Paul II., der meditiert noch schnell über Dylans „Blowin‘ In The Wind“, was den damaligen Präfekten der Glaubenskongregation Joseph Kardinal Ratzinger, bekanntermaßen der spätere Papst Benedikt XVI., maßlos geärgert haben muss, zumal er Dylans Auftritt lange verhindern wollte – allein darüber könnte man stundenlang nachdenken. Eine solche Ehre ist John Lennon nicht widerfahren.

Ganz besondere Paartherapie

Biographien über John Lennon gibt es ohne Ende. Dass er seine problematische Kindheit, vor allem die Beziehung zu seiner Mutter, mit einer Urschrei-Therapie zu bewältigen suchte, ist längst bekannt. Dass er in Yoko Ono so etwas wie eine Ersatzmutter fand, hingegen Spekulation. Macht sich aber gut. Lässt auch leichter verstehen, warum Yoko ihm damals, mitten in einer Ehekrise, eine Paartherapie der besonderen Art „verschrieb“: Yoko drängte John ihre damals 22-jährige Assistentin May Pang als Geliebte mehr oder weniger auf.

The Lost Weekend

Wobei über die 18 Monate, die May Pang und John Lennon innig miteinander verbrachten, wenig bekannt ist. Weitaus bekannter sind die Sauftouren mit Produzent Phil Spector, Who-Schlagzeuger Keith Moon und Musikerkollegen Harry Nilsson. Und das von Spector produzierte Album „Rock ‚n‘ Roll“, über dessen Entstehung allein man schon einen ganzen Text schreiben könnte. Spector mit Knarre, klaut abends die Bänder, die verschwinden monatelang. Und das Ergebnis ist ein Spector-Album, obwohl es von John Lennon stammt.
Lennon nennt diese 18 Monate dauernde Zeit voller haarsträubender Vorkommnisse später äußerst euphemistisch „Lost Weekend“. Dass er sich bei der Bezeichnung bei Charles R. Jackson bediente, soll zumindest der Vollständigkeit halber erwähnt werden. Auch, dass dessen autobiographischer Roman-Erstling „The Lost Weekend“ bereits 1945 unter Regisseur Billy Wilder verfilmt und Hauptdarsteller Ray Milland 1946 einen Oscar einbrachte, gehört zur ganzen Wahrheit. Und zeigt, wie nüchtern Lennon war, als er später auf die 18 Monate voller Exzesse zurückblickte und ihnen einen Namen gab.

Ermordung

Noch einmal zurück zum 8. Dezember 1980: Wie pervers ist diese Situation eigentlich? Da kommst du als Musiker, der gerade wieder in die Spur gefunden hat, aus dem Aufnahmestudio nach Hause, wirst von einem Unbekannten wegen eines Autogramms angebettelt… und dann schießt dieser Typ wenig später mit einer Knarre auf dich? Würde jemand ein Drehbuch mit solch einer Story schreiben – man würde gelangweilt gähnen und den Autor fragen, ob er noch alle Tassen im Schrank hat. Was aber wieder einmal beweist: Die wirklich abgedrehten Geschichten schreibt tatsächlich das Leben.
Dass Lennons Mörder Jerome D. Salingers Werk „The Catcher in the Rye“ (deutsch: „Der Fänger im Roggen“) gelesen und sich dadurch zum Mord inspiriert sah, ist eine andere Geschichte. Auch, dass der Mörder wohl genauso verwirrt war wie die Hauptfigur in Salingers Roman, die am Ende einen Psychoanalytiker aufsucht. Es ist schon eine kranke Welt, in der wir leben. Eine Welt voller kranker Menschen…

Was wäre, wenn…

Was wäre eigentlich passiert, wenn Lennon damals nicht erschossen worden wäre? Würde er dann immer noch „Give Peace A Chance“ intonieren? So wie Ringo, der immer mal wieder ein paar seichte Nummern von und für Frieden zum Besten gibt? Kann man sich John Lennon, der immerhin nun auch schon schlappe 81 Jahre alt wäre, im Schaukelstuhl oder auf der Couch vorstellen? Als Abbild seiner selbst? Als Erinnerung an Zeiten, in denen er noch rebellisch war? Mir fällt das schwer. Wahrscheinlich, weil ich viel zu sehr in diesem Klischee gefangen bin, dass die wahren Helden nun einmal wirklich jung sterben. Und dass auch ein spektakulärer letzter Auftritt zu dem gehört, was einen Menschen in der Erinnerung anderer als Helden bewahrt.

Sprachrohr des kleinen Mannes

John Lennon war das Sprachrohr des kleinen Mannes. Er verlangte „Give Peace A Chance“, kritisierte, dass für die Realität „Woman Is The Nigger Of The World“ galt, bekannte „I Don’t Want To Be A Soldier“, bat mit „Give Me Some Truth“ um Aufrichtigkeit und erbat den Segen Gottes („Bless You“). Schon zu Beatles-Zeiten war er sich sicher: „All You Need Is Love“, damit alle Menschen Brüder werden und harmonisch miteinander auskommen. John Lennon wusste, dass er über Träume sang. Aber zumindest konnte man sich vorstellen, wie eine bessere Welt aussehen könnte („Imagine“) und was es dazu benötigte, um dorthin zu kommen: mehr als nur einen „Working Class Hero“. Aber das war John Lennon ganz sicher. Das ist er, auch weit über seinen heutigen Todestag hinaus.
Falls Sie sich fragen, was ich nun tun werde: Ich werde diese Songs hören. Genau in dieser Reihenfolge. Und noch ein paar weitere dazu. Um gemeinsam mit John Lennon von einer besseren Welt zu träumen, an der, so John Lennons feste Überzeugung, wir alle mitarbeiten können.

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

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