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Kleine Geste mit großer Wirkung – der Kniefall von Willy Brandt und seine Bedeutung heute (7. Dezember)

War das Ganze eine ausgeklügelte Show? War es lange geplant, strategisch richtig angewendet und dann eiskalt durchgezogen? Genau das wären heute die Fragen, wenn sich der 7. Dezember 1970 wiederholen würde. Jener 7. Dezember, an dem der damalige deutsche Bundeskanzler Willy Brandt in Warschau war. 25 Jahre nach Kriegsende leitete genau jener 7. Dezember das

Normalisierung der Beziehungen

ein, was die Historiker als „Normalisierung der Beziehungen zu Polen und der UdSSR“ bezeichnen. In jenen Tagen erkannte die Bundesregierung die polnische Westgrenze völkerrechtlich an, machte Oder und Neiße zu Grenzflüssen zwischen dem damaligen Warschauer Pakt und der Nato, zwischen dem so genannten Ost-block und dem Westen. Aber das war nicht das wirklich Entscheidende. Entscheidend war eine kleine Geste. Die Geste, die hinterher für Fragen sorgte.

Warschauer Ghetto April 1943

Willy Brandt stand vor einem Denkmal. Und erinnerte sich: Rund eine halbe Million Juden hatten die nationalsozialistischen Machthaber ins Ghetto gesperrt. Die lebten in menschenunwürdigen Verhältnissen, immer die Angst vor dem Morgen im Genick. Im April 1943 entluden sich Angst und Wut, kam es zu einem Aufstand. Brutal und erbarmungslos schlugen die Nazis zurück. Überlebende Juden gab es kaum.

Die Geste

Vielleicht war es die Erinnerung, vielleicht auch die Scham, wie manch eine Tageszeitung damals vermutete. Wie auch immer: Der deutsche Bundeskanzler ging auf die Knie, beugte den Kopf und verharrte regungslos. 20 Sekunden, 30, eine lange Zeit. Gefühlt war sie viel, viel länger. Eine Geste, die bei Polens Machthabern Verwunderung hinterließ, bei Polens Intellektuellen Willy Brandt viel Anerkennung einbrachte.

Kette des Unrechts durchbrechen

„Vaterlandsverräter“, schimpften Unionspolitiker. Und „Geschickt geplant“, mutmaßte manch einer. Nein, erklärte Brandt später. Geplant war gar nichts. „Wir müssen unseren Blick in die Zukunft richten und die Moral als politische Kraft erkennen. Wir müssen die Kette des Unrechts durchbrechen“, so Willy Brandt damals.

Die Kette des Unrechts durchbrechen. Einen Schritt auf den anderen zumachen, auch wenn man sich selbst nichts vorzuwerfen hat. Heraus aus der Grabenstellung, auch wenn das vielleicht als Schwäche gedeutet wird. 20, 30 Sekunden et-was tun, was vielleicht überrascht, was aber hilft, die starre Fronthaltung aufzubrechen.

Moment des Erschreckens

Manchmal gibt es sie, diese Momente, in denen man nichts sagen kann. Momente in denen man verstummt, weil die Größe des Ereignisses einem schlichtweg den Atem raubt. Solch einen Moment hat Willy Brandt erlebt: Ein Moment des Erschreckens und des Kleinwerdens, als ihm bewusst wurde, aus welchem Grund dieses Denkmal errichtet worden war. Welche unglaublichen Gräueltaten Menschen an anderen Menschen verübt hatten. Brandt konnte gar nicht anders als in die Knie zu gehen. Und in diesem Augenblick, in dem er sich ganz klein machte, wahre Größe zu zeigen. Ein Ereignis, das die Deutsche Post im letzten Jahr, 50 Jahre nach Brandts historischer Großtat, mit einer Briefmarke würdigte.

Geste sorgt für Tauwetter

Denn durch die Größe, die Willy Brandt zeigte, als er sich klein machte, diese kleine Geste trug große Früchte. 1989 fiel die lange Zeit unüberwindbare

Grenze zwischen Ost und West. Es ist müßig, sich zu fragen, ob dies ohne die Politik von Willy Brandt und seiner Regierung dazu gekommen wäre. Unbestritten ist, dass sein Kniefall für Tauwetter zwischen den Machtblöcken sorgte, an dessen vorläufigen Ende die deutsche Einheit stand.
Knapp drei Jahre vor Willy Brandts Tod erfolgte die Wiedervereinigung. Davor hatte Brandt als Regierender Bürgermeister von Berlin miterleben müssen, wie die Stadt durch den Mauerbau ab 1961 geteilt wurde, hatte hinnehmen müssen, dass ihm sogar US-Präsident John F. Kennedy riet, den Gedanken an den Fall der Mauer in Berlin und an eine deutsche Wiedereinigung aufzugeben. Er solle die Realitäten anerkennen, soll Kennedy Brandt geraten haben.

Hoffnung, aber Angst vor der Lebenslüge

Vielleicht war das der Auslöser dafür, dass Brandt zumindest in der Öffentlichkeit vorbaute: Noch im Herbst 1988, als Michail Sergejewitsch Gorbatschow längst Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, wenn auch noch nicht Präsident der UdSSR war, befürchtete Brandt, dass die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung Deutschlands sich als „Lebenslüge der zweiten Deutschen Republik“ erweisen könne.
Dass der US-Präsident 1963, zwei Jahre nach seinem Rat gegenüber Brandt, Berlin besucht und dort trotz seiner negativen Einschätzungen den Menschen sein legendäres „Ich bin ein Berliner“ zugerufen hatte, steht auf einem anderen Blatt.
Wie auch immer: Aufgrund der herausragenden, stets von Hoffnung getragenen Rolle, die Brandt als Regierender Bürgermeister von Berlin ausübte, reifte er zum Bundeskanzler. Und mit seinem Kniefall von Warschau zum wirklich großen Politiker.

Rückfall in Zeiten des Misstrauens

Manche Dinge dauern – gefühlt – unendlich lange. Heute vor 51 Jahren ging Willy Brandt in Warschau auf die Knie und bereitete auf diese Weise den Boden dafür, dass Vertrauen zwischen Ost und West wachsen kann. 19 Jahre später war dieses Vertrauen so groß, dass die UdSSR die damalige DDR aus ihrem Einflussbereich endlich und die Wiedervereinigung ermöglichte. So ist das nun einmal in der großen Politik. Da, wo nichts auf Dauer zu sein scheint. Denn aktuell stehen sich Ost und West an der Grenze zwischen Russland und der Ukraine säbelrasselnd und mit markigen Gesten gegenüber. Wie wertvoll wäre jetzt wohl eine Geste wie die, die damals von Willy Brandt kam? Eine Geste, die dazu beiträgt, Misstrauen abzumildern, zu beenden und neues Vertrauen zu schaffen? Doch eine Haltung mit einer derartigen Auswirkung ist weit und breit nicht in Sicht.

Kleine Gesten im Alltag

Kleine Gesten sind übrigens nicht nur Sache der großen Politik. Auch in der „kleinen Politik“, in unserem Alltag mit Partnern, Kollegen und Nachbarn wirken kleine Gesten oftmals Wunder. Probieren Sie es aus. Am besten sofort. Und wer weiß: Vielleicht setzen Sie damit auch einen neuen Meilenstein in festgefahrene Beziehungen. Zu wünschen wäre es Ihnen. Ihnen und den Menschen, die mit Ihnen im Alltag zu tun haben.

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

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