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(Keine) Langeweile – seinem Leben Sinn geben (26. November)

Monatelang hatte mir Kalle vorgeschwärmt, was er als Rentner endlich alles tun werde. Kalle kannte ich seit Jahren. Eine intensivere Beziehung hatte sich nie ergeben. Wir hatten sie auch beide nie forciert. Aber wenn wir in der Innenstadt etwas zu erledigen hatten, richteten wir es so ein, dass wir uns am selben Wochentag, zur selben Zeit und an derselben Stelle begegneten: am Kaffeetisch eines Kaffeerösters. Bei diesen Begegnungen erzählte Kalle dann auch, dass er mit seinen Bemühungen bestens vorangekommen war: Seine Wohnung hatte er komplett neu tapeziert, Keller und Dachboden aufgeräumt, im Garten alte Büsche durch neue ersetzt und sogar einen Gartenteich angelegt. Außerdem hatte er ein paar Reisen unternommen und und und.

Kaffeetrinken mit Mindestabstand

Vor ein paar Wochen treffe ich ihn wieder einmal. Gleicher Tag, gleiche Zeit, gleiche Stelle: vor dem Kaffeeladen am Stehtisch. Damals gingen die Coronazahlen deutlich nach unten. Außerdem sind wir geimpft, genesen oder getestet und halten trotzdem einigermaßen Abstand voneinander. Sogar beim Sprechen behalten wir die Masken auf. Nur zum Trinken ziehen wir diese kleinen Schutzschilde für einen Moment nach unten.

Wie die Zeit totschlagen?

„Mir ist so langweilig“, gesteht Kalle. „Ich bekomme die Zeit kaum rum! Weiß gar nicht mehr, was ich noch tun soll.“ Stakkatoartig wiederholt er, was ich ohnehin weiß: die komplette Wohnung frisch tapeziert, den Keller entrümpelt. Und ohne dass er es erwähnt, bin ich mir sicher: Alles, was er auf Dachboden und Keller verstaut hat, ist neu sortiert, ordentlich in Kisten verpackt und fein säuberlich beschriftet. Was gibt es da noch groß zu tun? Einen weiteren Gartenteich anzulegen, macht wenig Sinn. Wo denn auch? Mehr Platz bietet sein Garten ja nun wirklich nicht. Und nun steht er vor dem Problem, dass er nicht weiß, wie er seine freie Zeit totschlagen soll.

Der Sketch mit den Vogelhäuschen

„Du könntest Vogelhäuschen bauen und verkaufen“, ruft ihm ein weiterer Bekannter vom Nebentisch zu. Wegen des Sicherheitsabstands und unserer Masken haben wir wohl lauter gesprochen, als wir gedacht haben.
„Ja, ich weiß, und wenn es mit den Vogelhäuschen gut läuft, mache ich eine Firma auf, stelle Leute ein und kümmere mich um den weltweiten Export! Nee, danke!“ Verlegenes Lachen auf allen Seiten. Der Dritte spielt auf einen Sketch an, den auch Kalle und ich kennen: Der Sketch handelt von einem Rentner, der sein ganzes Leben lang auf der Arbeit bestens funktioniert hat, ein unentbehrliches Rädchen im großen Getriebe war und im Arbeitsleben seine Erfüllung fand. Daneben hatte er nichts. Und als der Mann in diesem Sketch in Rente ging, fiel er in ein Loch. Letztlich wusste er sich keinen anderen Rat, als wieder zu arbeiten. Und so baute er Vogelhäuschen, von morgens bis abends. Und oft genug sogar nachts.

Leben, um zu arbeiten

Schlimm, wenn man nichts anderes hat als seine berufliche Tätigkeit. Wenn man ausschließlich aus ihr sein ganzes Prestige bezieht, sich nur über die Arbeit definiert. Warum gibt es Menschen, denen es, solange sie arbeiten, nicht in den Sinn kommt, dass es auch noch etwas anderes gibt? Der Sinn des Lebens besteht nur in der Berufsarbeit? Klar, zu arbeiten heißt auch zu leben. Mit der Formulierung „leben, um zu arbeiten“ habe ich schon gewaltige Schwierigkeiten. „Arbeiten, um zu leben“ gefällt mir da deutlich besser.

Im Job alles geben, bestmögliches leisten, gut arbeiten – dann kann man auch gut verdienen. Aber trotzdem kann das doch nicht alles sein. Raus also aus den alten Mustern. So früh wie möglich. Damit die Muster nicht den Menschen bestimmen. Nie vergessen, dass es auch noch etwas anderes gibt als die Arbeit. Zum Beispiel das Leben! Einfach das Leben leben? Wenn das mal so einfach wäre! Aber klar, Kalle hat das nie gelernt. Woher soll er das jetzt können?

Hochschulabschluss mit 91

Unser Gespräch ist erlahmt. Schweigen breitet sich aus. Was soll man da auch noch sagen? Traurig ist das. Aber wie kann man das ändern?
„Mach’s doch wie diese mehrfache Großmutter aus Nordthailand“, steigt ein weiterer Kaffeetrinker in unser Gespräch ein. Hochschulabschluss mit 91 Jahren! Laut Uni ohne Sonderbehandlung wegen des Alters! Im Gegenteil: Vielleicht sogar wegen ihres Alters war die rüstige Dame bei mehreren Einzelprüfungen im ersten Durchgang durchgefallen. „Oder nimm die 70jährige aus Cambridge: Die hat als Rentnerin noch ein Studium in mittelalterlicher Geschichte begonnen und einen Abschluss gemacht. Irgendwie klasse!“
Gelesen hat er das in irgendeinem Zeitungsartikel über Einsamkeit alter Menschen.

Lebenszeit ist geschenkte Zeit

Kalle ist skeptisch. Er fühlt sich nicht einsam. Er weiß nur nichts mit seiner Zeit anzufangen. Nur! Als ob das nicht ein Problem wäre. Und so langsam versteht Kalle: Lebenszeit ist geschenkte Zeit. Wir sind selbst verantwortlich dafür, was wir mit dieser Zeit anfangen. Lange schlafen, Fernsehen bis in die Puppen – kann man machen. Seine Zeit jedoch sinnvoll zu füllen, bedeutet auch, seinem Leben einen Sinn zu geben. Weil mir keine besseren Worte einfallen, kann ich das nur ziemlich pathetisch sagen: Nur wer sein Leben sinnvoll füllt, hat auch die Chance, ein erfülltes Leben zu leben. Verstehen Sie, was ich meine? Kalle hat es verstanden.

Geteilte Zeit ist doppelte Zeit

Diese Begegnung ist schon eine Weile her. Gestern haben wir uns wieder getroffen. Noch mehr Corona-Abstand als zuletzt schon. Trotz Maske habe ich Kalle kaum wiedererkannt. Im übertragenen Sinne natürlich. Nichts mehr mit Jammerei, nichts mehr von Zeit totschlagen. Er gehe seit geraumer Zeit regelmäßig zum Seniorentreff seiner Pfarrei, erzählt Kalle. Dort spiele er Schach, rede mit Gleichaltrigen, denen es ähnlich gehe wie ihm, nehme an dem einen oder anderen Ausflug teil. Natürlich im Moment alles auf Sparflamme wegen Corona. Aber das sei vorübergehend, da sei er sich sicher.

Ersatz-Opa

Außerdem spiele er in seiner Nachbarschaft den Ersatz-Opa: Den Zwillingen einer alleinerziehenden Mutter lese er regelmäßig Geschichten vor, gehe mit ihnen auf den Spielplatz. Und ab und an kicke er sogar mit den Kleinen. Wenn erst die Beschränkungen wieder fielen und er sich wieder völlig frei bewegen könne – das alles sei nämlich gewaltig ausbaufähig. Dann gehe es erst richtig los.
Dann hatte Kalle es eilig. Mittagessen im Seniorentreff – da sei er verabredet. Und klar, weiterhin gerne gleicher Wochentag, gleiche Uhrzeit, gleicher Ort. „Man sieht sich!“ Ja, klar, Kalle, man sieht sich.
Von Langeweile war bei unserer kurzen Begegnung definitiv nicht mehr die Rede. Kalle hat seinem Leben einen neuen Sinn gegeben. Was übrigens nicht nur bei Senioren Wunder wirkt.

Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.

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