Eisschmelze, Entdeckerdrang und Profit – Roald Amundsen vs. Klimawandel (19. Oktober)
Am Stichwort „Klimawandel“ kommt man in diesen Tagen einfach nicht vorbei. Und wer den Blick auf das Abschmelzen des Polareises wirft, kommt zu dem Ergebnis: Irgendwie scheint die ganze Nummer nicht mehr aufzuhalten zu sein. Geschweige denn umkehrbar. Wobei ich gestehen muss: Das, was man da immer so hört, ist wahnsinnig abstrakt. Ja, das Eis schmilzt; ja, der Meeresspiegel wird steigen. Und die Eisbären werden im wahrsten Sinne des Wortes absaufen. Oder wahlweise verhungern. Alles schlimm. Aber doch irgendwie immer noch weit weg. Zu weit weg, um Otto Normalverbraucher wirklich zu betreffen. Was besagt das schon, dass die Nordwestpassage im vergangenen Sommer zum zweiten Mal eisfrei war? Ist halt so. Alles weit, weit weg. Auch dann, wenn man uns hundertmal sagt, dass sich das Abschmelzen des arktischen Packeises noch einmal beschleunigt habe.
Täglich 2 ½ mal die Schweiz
Ein bisschen besser kapiert, was da gerade um uns herum passiert, habe ich, als ich jetzt las: Die tägliche Schmelzrate liegt in der Arktis bei etwa 113.000 Quadratkilometern. Immer noch abstrakt, oder? Aber dann kam der nächste Satz: Das sei ungefähr die 2 ½ fache Fläche der Schweiz. Hallo? In rund zehn Stunden schmilzt so viel arktisches Eis ab, wie die Schweiz an Fläche hat? Alle zehn Stunden verschwindet die Schweiz von der Landkarte? Das ist nun einmal etwas, was ich mir vorstellen kann. Oder schon wieder so riesig, dass meine Vorstellungskraft kaum ausreicht. Nicht dass ich etwas gegen die Schweiz hätte, nicht dass die Schweiz ungeheuer groß wäre. Aber allein die Vorstellung, wie die Schweiz 2 1/2 mal pro Tag von der Landkarte verschwindet… Ungeheuerlich! Hoffentlich bin ich einer falschen Berechnung aufgesessen!
Entdeckergeist: Roald Amundsen
Allerdings ging es mir dann so, wie es den meisten anderen Menschen auch geht: Ich wurde Opfer meiner eigenen Verdrängung. War gedanklich sofort bei Roald Amundsen. Dieser norwegische Polarforscher durchfuhr als erster Mensch die Nordwestpassage, als zweiter die Nordostpassage. Die Nordwestpassage allerdings war zu Amundsens Zeiten noch komplett vereist. 1903 startete er sein Abenteuer. Ein Abenteuer sondergleichen, vor allem wenn man bedenkt, dass Amundsen mit seiner nur sechsköpfigen Crew unterwegs war. Und zwar aufgrund des vielen Eises, Achtung, jetzt kommt’s, drei Jahre lang.
Nordwestpassage
Amundsen hatte etwas geschafft, wovon Forscher und Seefahrer rund 400 Jahre geträumt hatten. Seit nämlich Fernão de Magalhães, bei uns besser bekannt als Ferdinand Magellan, 1520 einen Seeweg um Südamerika herum nach Asien entdeckt hatte, hofften Schiffseigner und Händler auf eine Durchfahrt durch das Nordpolarmeer. Amundsens Forschergeist bewies: Die Durchfahrt ist möglich. Theoretisch. Wenn das Eis nicht wäre. Aber nun kommt die entscheidende Wende: Wenn das Eis schmilzt, wäre ein Schiffs-Linienverkehr durch die Nordwestpassage möglich. Schiffsreisen zwischen Europa und Ostasien würden deutlich kürzer. Was den Handel massiv erleichtern würde.
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Der Handel war Amundsen allerdings völlig egal. Er war Forscher, Entdecker, einer von denen, die alles dafür gaben, die weißen Flecken auf den Landkarten zu erschließen.
Mehr als Ruhm und Ehre
Bis heute kann ich mich in solche Entdecker- und Abenteuerberichte verbeißen, kann mich stundenlang festlegen. Dabei geht es mir vor allem um eine Frage: Was sind das für Menschen, die Entbehrungen auf sich nehmen, um einer Sache willen? Geht es da nur um Ruhm und Ehre? Ich denke nicht. Vielmehr scheint mir in solchen Forschern und Entdeckern etwas davon aufzublitzen, das es mehr gibt als wir Otto Normalverbraucher in unserem Alltagsleben wahrnehmen. Etwas, was über unsere üblichen Erfahrungen hinausgeht. Diese Unbekannte zu erleben und vor allem: es zu bezwingen – das macht wohl den Forschergeist aus. Zumindest in meinen vielleicht doch etwas naiven Vorstellungen.
Kürzere Handelswege
Ob Amundsen entsetzt darüber wäre, dass die Nordwestpassage im letzten und im vorletzten Sommer eisfrei war? Dass man nun ernsthaft über einen neuen Handelsweg von Europa nach Asien nachdenken kann? Traditionell beschrieben als Route von Rotterdam nach Tokio würde diese erheblich kürzer: Statt etwas mehr als 21.000 Kilometern wären Schiffe durch die Nordwestpassage nur noch knapp 16.000 Kilometer unterwegs. Schneller und – jeder Kilometer zählt – damit preiswerter, außerdem ohne Gebühren für die Durchfahrt durch den Suezkanal – kein Wunder, dass nicht jeder der Klimaerwärmung nur Schlechtes abgewinnt. Außer in diesem Fall vielleicht die Ägypter, die eine Menge Durchfahrtgebühren verlieren würden.
Konflikte vorprogrammiert
Noch ist es nicht soweit. Noch lange nicht. Aber die Planungen und Vorbereitungen laufen schon auf vollen Touren. Und richten sich auf den Ausbau einer Infrastruktur entlang der Route. Dazu gehört auch, eine zentral gelegene Inuit-Siedlung an der Resolute Bay zu einem Tiefwasserhafen auszubauen. Außerdem benötigt man eine Reihe zentraler Servicestationen. Die sollen auch für die notwendige Sicherheitstechnik sorgen.
Allesamt Dinge, die längst Umweltschützer auf den Plan rufen. Die haben Angst vor Havarien und Umweltkatastrophen in „noch halbwegs sauberen, von der menschlichen Zivilisation verschonten Gebieten“. Und sie bezweifeln, dass die Nordwestpassage überhaupt für Schiffe mit großem Tiefgang geeignet ist.
Wenig verwunderlich, dass sich auch die Politik in Stellung bringt: Kanada hat schon Ansprüche auf den Seeweg angemeldet, die USA haben ihn zu einem internationalen Gewässer erklärt – Spannungen sind also längst vorprogrammiert.
Hat eigentlich jemand mal die Inuit gefragt? Wie stehen die dazu, dass der Kapitalismus ihren Lebensraum und ihren Lebensrhythmus erheblich verändert wird?
Entdecker vs. Gewinnmaximierung
Forschern wie Roald Amundsen ging es vor allem ums Entdecken, darum, Wissen zu mehren, Zusammenhänge zu verstehen. Ja, auch um Ruhm und Ehre, auch um Stolz. Aber am wenigsten ging es ihm ums Geld. Und genau das unterscheidet seinen Entdeckerdrang von dem, was heute zumeist die Welt lenkt: Immer wieder die Hoffnung auf noch mehr Profit und Vermehrung des Wohlstandes. Wohlstand zumindest für einige. An sich ja eine feine Sache. Nur da, wo die Natur völlig außer Acht bleibt, zahlen man am Ende drauf. „Man“ – das sind am Ende wir alle.
Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.
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