Giesinger, Max & Schulte, Michael – More To This Life
Was für ein Spektakel! Als “The Voice of Germany” im Winter 2011/2012 zum ersten Mal an den Start geht, ist nicht nur das neue Format ein echter Hingucker, sondern auch die Jury. Denn die besteht aus Nena, Xavier Naidoo, Rea Garvey und den beiden BossHoss-Mitgliedern
Auf ProSieben UND Sat1
Alec Völkel und Sascha Vollmer. Sechs Folgen der Casting-Show sendet ProSieben, die restlichen elf Folgen zeigt bei Sat1. Gewinner ist damals übrigens eine gewisse Ivy Quainoo. Die tritt sechs Jahre später noch einmal mehr oder weniger nachhaltig in Erscheinung: nämlich beim Vorentscheid für den Eurovision Song Contest 2018 in Lissabon. (Den sie, nur am Rande, nicht gewinnt. Doch dazu später mehr.)
Freunde, Straßenmusiker und WG
So weit, so gut. Die Zweitplatzierte Kim Sanders mischt später beim Captain Hollywood Project und bei Culture Beat mit. Die Dritt- bzw. Vierplatzierten, während der Casting-Show immerhin Konkurrenten, werden Freunde. Sie versuchen sich als Straßenmusiker, gründen in Mannheim eine Männer-WG, die sie später im Hamburger Kiez fortsetzen. Ihre Namen sind heute allerdings weitaus bekannter als die der beiden Erstplatzierten: Michael Schulte und Max Giesinger.
“80 Millionen“ und „You Let Me Walk Alone“
Bei Max Giesinger dauert es noch über vier Jahre, bis ihm mit „80 Millionen“ endlich der Sprung in die ersehnte Erfolgsspur gelingt. Michael Schulte muss sogar noch zwei Jahre länger warten: Erst 2018 tritt er – wie Voice-Kollegin Ivy Quainoo, s.o. – beim Vorentscheid für den ESC 2018 an. Schulte gewinnt klar. Und er kann auch beim ESC-Finale in Lissabon überzeugen: Mit „You Let Me Walk Alone“ kommt er auf Platz vier – sieht man von Lenas Überraschungssieg beim ESC 2010 einmal ab, ist das aus deutscher Sicht eine Sensation. Einstellig! Bei den Punkten gibt es dieses Ergebnis für deutsche ESC-Hoffnungen oft. Bei den Platzierungen hingegen nur alle Jubeljahre einmal.
Unterschiedliche Lebenswege
Immerhin: Seit ihrem jeweiligen Durchbruch gehen Songs von Max Giesinger und Michael Schulte in der Regel steil. Und beide sind immer noch miteinander eng befreundet. Als Michael heiratet, ist sein Trauzeuge selbstverständlich Kumpel Max. Ansonsten folgen die beiden unterschiedlichen Lebenswegen: Max singt immer noch deutsch, Michael immer noch englisch. Michael lebt – verheiratet und mittlerweile zweifacher Familienvater – auf dem Land, Max zieht es für ein paar Jahre mitten in den Trubel des berühmt-berüchtigten Hamburger Schanzenviertels. Dass die beiden Ende 2022 plötzlich einen gemeinsamen Song veröffentlichen, war also nicht unbedingt abzusehen. Aber man weiß ja nie, für welche Überraschung das Leben so gut ist…
More To This Life
Womit wir – auch inhaltlich – bei “More To This Life” angekommen wären. Da singen die beiden:
Auch interessant
- Preis: 1,29 €
- Preis: 1,29 €
- Preis: 13,64 €
- Preis: 17,99 €
- Preis: 7,99 €
- Preis: 9,99 €
- Preis: 9,74 €
- Preis: 9,99 €
- Preis: 9,99 €
- Preis: 9,99 €
“Wenn ich nur in der Zeit zurückgehen
und die Welt noch einmal mit den Augen eines Kindes sehen könnte;
(Wenn ich) Monster und Feen zum Leben erwecken könnte,
um die Dämonen zu verjagen, die mir auf der Seele liegen…
Ich weiß: Es gibt kein ewig jung.
Es nützt nichts, sich (an diese Gedanken) für immer festzuklammern.
Und ich weiß auch, dass es zum Erwachsenwerden gehört,
das eigene Herz zu brechen.
Aber warum?”
Irgendwie merkwürdig: Max Giesinger, Jahrgang 1988, und Michael Schulte, Jahrgang 1990, sind, wenn es gut läuft, soeben in das zweite Drittel eines hoffentlich langen Lebens eingetreten. Und können voller Stolz sagen: Wir haben es geschafft! Wir sind erfolgreich, haben unseren Platz in der Gesellschaft gefunden, haben genügend Einkünfte, um so zu leben, wie wir leben wollen – jeder auf seine Weise. Und trotzdem fehlt etwas. Oder genauer: Da ist sogar etwas zu viel. Denn beiden, so zumindest der Song, ist die Leichtigkeit des Lebens abhanden gekommen.
Die Leichtigkeit des Seins
Als Kind machst du dir keine Gedanken über Umweltkatastrophen, über den Verbrauch von Ressourcen, über Leid und Ungerechtigkeit oder Kriege irgendwo auf der Welt. Als Kind lebst du in deiner eigenen kleinen Welt, im Idealfall von Mutter und Vater gut behütet vor Eindrücken und Einflüssen, die der kleinen Kinderseele Schaden zufügen könnten. Dass dies alles heutzutage vielleicht noch der Idealfall, aber längst nicht mehr der Normalfall ist, steht auf einem anderen Blatt. Klar ist aber auch: Wenn mit zunehmendem Erwachsenwerden diese Blase zerplatzt, wenn mit zunehmendem Bewusstsein auch die große weite Welt mit all ihren Problemen ihren Platz im Kinderkopf beansprucht, dann verändert sich das Leben nachhaltig.
Erkenntnis von Gut und Böse
Die älteste Beschreibung eines derartigen Ereignisses beschreibt die Bibel in sehr bildhaften Erzählung bereits in den Anfängen der Menschheit: Als Adam und Eva eine Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse essen, verlieren sie ihr Paradies. Nicht nur im Zusammenhang mit dem Song kann das bedeuten: Irgendwann in der Entwicklung der Menschheit gibt es den Moment, in dem die Unterscheidung zwischen Gut und Böse möglich ist. Ist das der Moment, in dem Verstand und Bewusstsein den frühen Menschen vom Tier unterscheiden? In jedem Fall heißt dies für den einzelnen Menschen: Wer so weit entwickelt ist, dass er zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, trägt von nun an eine Last mit sich herum: Immer wieder ist er vom Bösen herausgefordert, ist aufgefordert, sich gegen das Böse zu entscheiden. Die Leichtigkeit des Kindseins, wo dies alles nicht bewusst war, ist verschwunden. So übersetzt bedeutet Paradies vor allem einen Daseinszustand, in dem es diese Belastung nicht gibt bzw. nicht gab. Selig also, wer in einem paradiesischen Zustand lebt? Glücklich also, wer sich seine “kindliche Unschuld” erhält? Vielleicht.
Verlust des Paradieses
In jedem Fall verändert der so verstandene Verlust des Paradieses den Menschen. In “More To This Life” klingt das so:
“In letzter Zeit habe ich das Gefühl, statt des Himmels (voller Glück)
nur das Firmament (voller Wolken) zu sehen. […]
Üblicherweise schaue ich zu den Sternen hinauf,
strecke meine Hände aus, als wären sie nicht weit entfernt.
Jetzt bin ich irgendwo verloren im Dunklen.”
Was bleibt, ist vielleicht eine vage Erinnerung, vielleicht aber auch nur ein intensives Sehnen danach, dass es auch anders sein könnte:
”Aber vielleicht, wirklich vielleicht,
ich denke, es könnte doch sein,
(nein), es MUSS mehr geben in diesem Leben.”
Nicht alles zu ernst nehmen
Im Interview erläutert Max Giesinger: Als Erwachsener fange man ja irgendwie an, alles nicht nur ernst, sondern zu ernst zu nehmen, nicht nur zu denken, sondern Dinge zu zerdenken. Um im Job und in der Gesellschaft wirklich erfolgreich zu sein, ist es meistens notwendig, den Dingen auf den Grund zu gehen, den Verstand zu bemühen. Und sein ganzes Leben gezielt und bewusst dem Erfolg unterzuordnen. Aus gutem Grund gibt es eine ganze Industrie, die Produkte für die Selbstoptimierung anbietet – und glänzend daran verdient. Gefühle oder gar Schwächen haben in einer derartigen Welt keinen Platz.
Werden wie die Kinder
Gut möglich, dass genau hier der Grund liegt, warum viele Menschen ihr Leben als Last empfinden: Wenn der Verstand die Gefühle verdrängt, fehlt ein wesentlicher Teil des Menschseins. Nahezu das Gegenteil empfielht der Evangelist Matthäus vor rund 2000 Jahren:
„Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.“
Größtes Glück
Wobei im Zusammenhang mit dem Song “Himmelreich” so viel bedeutet wie “größtes Glück”. Anders formuliert: Wer sein Leben in Schritten denkt, die es zu erreichen gilt, alles seinen Lebenszielen unterordnet und sein Leben gezielt plant, kann seine Ziele erreichen. Aber genau das ist nur ein Teilaspekt des Lebens, ist längst nicht alles. Wer sich nur “vom Kopf leiten lässt”, verspielt damit die Leichtigkeit in seinem Leben und damit ein Stückweit sein Lebensglück.
Druck aus dem Kessel nehmen
Und genau darum geht es in “More To This Life”: sich die Leichtigkeit im Leben zu bewahren. Oder, wenn diese verlorengegangen ist, sie ein klein wenig zurückzugewinnen. Ganz klar: Zurückdrehen lässt sich das Leben nicht. Einmal gemachte Erfahrungen lassen sich nicht einfach ausradieren. Aus einem Erwachsenen wird – außer bei degenerativen Erkrankungen wie Demenz – nie wieder ein Kind. Trotz alledem kann jeder für sich ein bisschen den Druck aus dem Kessel nehmen, einen Gang herunterschalten und nicht alles dem gesellschaftlichen oder beruflichen Erfolg unterordnen.
Wenn Max Giesinger und Michael Schulte singen:
“Vielleicht gibt es etwas mehr im Leben,
das wir nicht mit unseren Augen sehen können”,
Dimension des Spirituellen
dann berühren sie damit die Dimension der Gefühle, die Erwachsene viel zu oft ausklammern. Vielleicht berühren sie aber auch eine ganz andere Dimension, die in unserem heutigen Erfahrungsbereich immer weiter in den Hintergrund rückt: die Dimension des Spirituellen und Göttlichen, die Dimension einer Welt, die ganz anders ist als unsere von Erfolg geprägte. Wer braucht die schon? Vielleicht all diejenigen, die sich ein bisschen danach sehnen, gelegentlich das Leben zu sehen wie Kinder: vorurteilsfrei, interessiert und offen. Denn Kinder haben noch eine Ahnung davon, dass es mehr im Leben gibt, als sich Erwachsene vorstellen können.
Max Giesinger & Michael Schulte – More To This Life
Der bei Radio Salü gesendete Beitrag ist eine Kurzfassung dieses Textes.
Kommentare
Hinterlassen Sie ein Kommentar