Sheeran, Ed – Azizam
Ghatam, Daf, Santoor, Hackbrett oder Laute – diese traditionellen Instrumente des Mittleren Ostens verwendet Ed Sheeran auf seiner Single „Azizam“. Sind die Instrumente für ein Popstück schon ungewöhnlich, so ist es der Songtitel auch: „Azizam“ ist
Kosename
Persisch und bedeutet so viel wie „mein Liebling“. Ein Kosename. Für Iraner ist dies ein allgegenwärtiger Begriff, eine Entsprechung zum Arabischen „habibi“. Im Westen Europas ist, oder besser: war das Französische „ma chérie“ ein passendes Äquivalent.
Für iranische Ohren klingt „Azizam“ alles andere als ungewöhnlich. Dazu tragen auch die iranischen Background-Sänger sowie die professionellen Musiker aus dem Iran und Indien bei, wo die drei Instrumente vor rund 3 ½ Tausend Jahren, vermutlich im alten Babylonien, entstanden. Wie kein anderer Popsong der letzten Jahre spiegelt „Azizam“ iranisches Flair wider – und ist doch völlig im europäischen Hier und Jetzt verwurzelt.
Ähnlichkeiten mit traditioneller irischer Musik
Wie sagte doch Ed Sheeran selbst sinngemäß: Die Ähnlichkeit mit traditioneller irischer Musik, mit der er aufgewachsen sei, sei verblüffend.
Verblüffend sind auch die vielen sprachlichen Bilder, die Ed Sheeran in „Azizam“ verwendet. Und die vielen Untertöne, die sich auf verschiedene religiöse Traditionen beziehen. Sheeran singt:
Ganz und gar bei dir
„Ich möchte jetzt nirgendwo anders sein als hier bei dir,
möchte eins sein in diesem Raum,
möchte mich in deiner Wolke verheddern und einwickeln lassen.
Ich möchte deinem Gesicht nahe sein.
Ich möchte mich in deinem Ozean verlieren und ertrinken,
möchte sorglos und frei sein,
hier leben, in dem Moment, den wir gefunden haben.
Ich möchte alles sein, was du siehst.
Bis die Sonne aufgeht: Sei wie ein Magnet für mich.“
Wer sich mit Religionen auskennt, wird in diesen Zeilen sofort eine große Nähe zur christlichen Mystik wie auch zu östlichen Traditionen finden: Danach findet wirkliche Liebe in einer Verbindung zwischen Hier und Jetzt mit einer übergeordneten, göttlichen Dimension statt, im Song angesprochen durch die Metapher der Wolke. Kompliziert? Es geht auch einfacher: Denn konsequent entsteht daraus ein Zustand, in dem zwei Menschen besonders eng miteinander verbunden sind, ein Zustand mit magischer, magnetischer Anziehungskraft.
Sehr persönliche Liebeserklärung an Ehefrau Cherry Seaborn
Natürlich stellt sich die Frage, an wen sich Ed Sheeran mit dieser Art der Liebeserklärungen richtet. Der Sänger ist dafür bekannt, immer wieder Songs zu schreiben, die durch persönliche Erlebnisse und Haltungen geprägt sind und vielfach bekennenden Charakter haben. Dies gilt auch für „Azizam“: Denn der Song ist ein Liebes- und Sehnsuchtsgesang, bei dem der 34jährige seine Ehefrau Cherry Seaborn im Blick hat. Die beiden kennen sich seit High-School-Zeiten, sind seit 2015 ein Paar und haben zwei kleine Töchter. So weit, so gut. Oder auch nicht!
Belastendes Jahr 2022: Tod von Freund Jamal Edwards
Gerade für einen Sänger, der von der Sehnsucht nach authentischen Begegnungen mit Menschen getrieben wird, waren ab 2020 die Coronakrise und die daraus resultierenden stark reglementierten Konzertmöglichkeiten so etwas wie eine Höchststrafe. Doch 2022 war trotz des Liebesglücks im persönlichen Umfeld des Sängers ein grauenvolles Jahr voller Schreckensmeldungen:
Sheerans Freund Jamal Edwards, der sich unter anderem für junge Menschen aus schwierigen Verhältnissen sowie die Sensibilisierung für psychische Erkrankungen engagiert hatte, starb mit nur 31 Jahren.
Cherrys Tumor
Im selben Jahr erhielt Sheerans Ehefrau Cherry Seaborn während ihrer zweiten Schwangerschaft die Hiobsbotschaft, an einem Tumor zu leiden, der erst nach der Geburt der zweiten Tochter operiert werden können. Dass der Musiker im selben Jahr – übrigens zum wiederholten Mal – wegen angeblichen Plagiats gerichtlich bedrängt wurde, brachte das Fass zum Überlaufen: Sheeran geriet in eine Spirale aus Furcht, Depressionen und Angstzuständen, brach bei einem Konzert auch schon einmal in Tränen aus.
Leiderfahrungen prägen
Wer derartige Erfahrungen gemacht hat, geht sein Leben aus einer anderen Perspektive an. Gedanklich bleibt so jemand weder in der Vergangenheit stehen, noch richtet er seine Vorstellungen ausschließlich auf die Zukunft. Stattdessen lebt er im Hier und Jetzt. Folgerichtig heißt es im Song:
„Nun, morgen kann warten.
Ich verliere an diesem Ort das Gefühl für Zeit.“
Ganz bewusst den Moment, den Augenblick genießen, sich nicht mit dem beschäftigen, was morgen vielleicht kommen könnte, vielleicht aber doch nicht kommt. Sondern sich fallenlassen und alles um sich herum vergessen. Auch die Zeit.
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Früher: Teil des Lebens und des Glaubens
Eine Erfahrung, die Menschen, früherer, langsamerer Zeiten wesentlich öfter machen konnten als wir heute in unserer schnelllebigen Zeit. Wie früher üblich, wurden derartige Erkenntnisse nicht nur Bestandteile des Lebens, sondern auch des Glaubens. Nicht wehmütig in der Vergangenheit stehenzubleiben und nicht alle Hoffnungen auf die Zukunft zu legen – schon vor rund 2000 Jahren schuf der römische Dichter Horaz dafür das Wort „Carpe Diem“. Ohne hedonistische Bezüge wurde daraus im Christentum die Vorstellung, seine Lebenszeit nicht zu vergeuden. Das bewusste Leben im Augenblick gehört auch zu den zentralen Motiven des Zen-Buddhismus.
Wasser als religiös/spirituelles Symbol
Wer will, kann auch im Refrain Spuren religiöser Lehren finden. Sheeran singt:
„Mein Liebling, steht auf.
Triff mich heute Abend auf der Tanzfläche
und zeige mir, wie man sich zwischen tanzenden Lichtern
wie Wasser bewegt.“
Sich bewegen wie Wasser – eine Metapher, die weit in die Philophie- und Religionsgeschichte hineinreicht: Vom vermutlich 520 v. Chr. geborenen griechischen Philosophen Heraklit ist die Formulierung „Panta rhei“, „Alles fließt“ überliefert: Die Welt und somit das Leben unterliegen einem ständigen Fluss, einem ständigen Wandel.
Wasser ist ein elementarer Bestandteil aller großen Religionen. In Christentum (Taufe), Judentum (Tevilah), Islam (Wudu) und Hinduismus (im Ganges, Ganga) dient Wasser vor allem rituellen Waschungen, die einerseits auf das Voranschreiten des Lebens verweisen, andererseits ein Symbol für Erneuerung sind. Im übertragenen Sinn wird daraus bei Ed Sheeran die Sehnsucht nach (nicht nur) körperlicher Leichtigkeit. Der Wunsch, in diesen besonderen Zustand der Liebe einzutauchen, impliziert eine Öffnung gegenüber dem Partner und den Verzicht auf sämtliche Ego-Strukturen.
Produzent Ilya Salmanzadeh als Ideengeber
Überhaupt: Zu verdanken ist dieser Song dem schwedisch-iranischen Produzenten Ilya Salmanzadeh, der als ILYA bereits erfolgreich mit Ariana Grande, Charli XCX, Ellie Goulding und Sam Smith gearbeitet hat. ILYA machte dem Rotschopf aus Halifax den Vorschlag, Musik aufzunehmen, die von seinem, also ILYAs, persischem Erbe und seiner Kultur inspiriert sei. Warum nicht? Schließlich hatte Ed Sheeran bereits in der Vergangenheit schon mit Popstars aus anderen Teilen der Welt zusammengearbeitet und deren kulturelle Hintergründe zu Bestandteilen seiner Songs gemacht. Als Beispiele seien die westafrikanischen Popstars Burna Boy und Fireboy DML genannt oder der kolumbianische Sänger J Balvin: Um mit ihm ein Duett zu singen, hatte Ed Sheeran kurzerhand Spanisch gelernt.
Uralte Kultur und Freddie Mercury
Aber Persien? Das Land ist so unendlich weit weg, nicht einmal nach Kilometern, sondern mehr aufgrund seiner politischen Realität und seiner Mullah-Führung, die das Land seit bald 50 Jahren autoritär und mit Gewalt regiert. Dass auch ein gewisser Farrokh Bulsara, besser bekannt als Freddie Mercury, zwar auf der afrikanischen Insel Sansibar geboren, einer parsischen Familie angehört, deren Vorfahren im 8. Jahrhundert aus dem heutigen Persien nach Indien auswanderten – geschenkt!
Musik als Gradmesser der Kulturen
Je mehr er reise und mit Menschen in Kontakt trete, umso mehr lerne er über ihre Musik und über ihre jeweilige Kultur, so Ed Sheeran zu seinem Song. Für ihn sei das, als würde er sich jedes Mal eine Tür zu einer völlig neuen und aufregenden Welt öffnen. Eine Welt mit anderen Rhythmen, Tonleitern, Melodien und Instrumenten, fremd und doch ähnlich der irischen traditionellen Musik, mit der er aufgewachsen sei. Das alles zeige ihm, dass Musik alle verbindet und tatsächlich eine universelle Sprache sei.
Vehikel gegen Vorurteile
Nicht nur bei Westeuropäern, sondern natürlich auch bei Iranern kommt der Song gut an. Millionen von Iraner leben – geflohen vor dem Mullah-Regime – im Ausland, sehen sich spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 zumindest misstrauisch beäugt, wenn nicht als Opfer von Vorurteilen. Seit dem Kopftuchkonflikt und dem Tod von Jina Mahsa Amini im September 2022, erst recht nach Konflikten rund um Irans Atomprogramm, hat sich dies noch verstärkt.
VÖ passend zum persischen Neujahrsfest
Dass sich mit Ed Sheeran ein populärer Künstler ihrer Sprache und Kultur annimmt, bedeutet für viele Iranerinnen und Iraner eine Aufwertung in der Gesellschaft, ein „endlich wieder wahrgenommen werden“. Sicherlich ist es kein Zufall, dass „Azizam“ passend zur Feier des persischen Neujahrsfestes rund um die Frühlings- Tagundnachtgleiche veröffentlicht wurde.
Musik bringt Menschen zusammen
Gekonnt verbindet Ed Sheeran in „Azizam” nicht nur verschiedene kulturelle Elemente miteinander, sondern auch persönliche Erfahrungen mit einer fast schon universellen Botschaft: Kultur, gerade auch Popkultur, kann Menschen unterschiedlicher Herkunft und Lebensverhältnisse näher zusammenbringen. Musik ist so etwas wie eine universelle Sprache, die Menschen miteinander verbinden kann. Egal, wie angespannt internationale Beziehungen auch sein mögen.
Übrigens: Wo eine Single erscheint, ist ein neues Album nicht weit: Übermorgen erscheint mit „Play“ das mit Spannung erwartete achte Studioalbum des Mannes aus Halifax. Mit darauf ist ganz sicher dieser Song:
Der bei Radio Salü gesendete Beitrag ist eine Kurzfassung dieses Textes.
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