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Lynyrd Skynyrd – Free Bird

Manchmal ist es ein kleiner Zufall, aus dem ein großer Song entsteht. Bei „Free Bird“ von Lynyrd Skynyrd kommen gleich eine ganze Menge kleiner Zufälle zusammen.

Zufall Nr. 1: lange verschmähte Akkordfolge

Zufall Nummer eins: Alles begann damit, dass etwa 1971 Lynyrd Skynyrd-Gitarrist Allen Collins eine Akkordfolge komponierte, mit der Sänger Ronnie Van Zant rein gar nichts anfangen konnte: viel zu viel Akkorde, um daraus eine halbwegs singbare Melodie zu entwickeln. So blieb die Akkordfolge zwei lange Jahre in der Schublade… bis Collins sie eines Tages während einer Probe rein zufällig mal wieder aus der Tasche zog. Und plötzlich ging alles sehr schnell: Innerhalb von ganz wenigen Minuten war die passende Melodie für „Free Bird“ gefunden.

Zufall Nr. 2: Would you still remember me?

Zufall Nummer zwei: Kathy Johns, Freundin und spätere Ehefrau von Gitarrist Allen Collins, fragte Allen eines Morgens unvermittelt: „If I leave here tomorrow, would you still remember me?“ Auf deutsch: „Wenn ich morgen hier weggehe, würdest du dich dann noch an mich erinnern?“ Welche Diskussionen der Satz zwischen Kathy und Allen auslöste, ist nicht überliefert. Wohl aber, dass der Musiker sich diesen Satz notierte. Und weil er so herrlich passte, wurde er zum Einleitungssatz von „Free Bird“.

Zufall Nr. 3: Die Roadie-Impro

Zufall Nummer drei: Wohl aus reinem Spaß experimentierte Band-Roadie Billy Powell am Keyboard mit „Free Bird“. Auf diese Weise entstand eine Passage, die die übrigen Bandmitglieder sofort begeistert als Intro für „Free Bird“ verwendeten. Und weil „Intro“ bekanntlich „Einstieg“ bedeutet: Für Billy Powell war dies gleichzeitig der Einstieg als festes Mitglied bei Lynyrd Skynyrd. Befördert vom Roadie zum Stamm-Keyboarder, wenn man so will.

Zufall Nr. 4: Stimme weg, Gitarrensolo länger

Zufall Nummer vier: Genaugenommen ist der Song nach gut vier Minuten zu Ende. Allerdings hingen die drei Gitarristen dann noch ein Minütchen mit ausschweifenden Gitarren an. Weil die Band aber in ihrer Anfangszeit oft genug gleich mehrere Gigs an einem Tag absolvieren musste, ging das Ronnie van Zant gewaltig an die Stimmbänder. Wegen Halsschmerzen bat er an einem Abend seine Kollegen, doch den Gitarrenpart ein Stück zu strecken. So könne er seiner Stimme ein wenig Pause gönnen. Das Ergebnis: eine sagenhafte 14 Minuten lange Live-Fassung von „Free Bird“. Und selbst als die Gruppe im August 1973 endlich ihr Debutalbum „Pronounced ‚Lĕh-’nérd ‚Skin-’nérd“ veröffentlichte, war die darauf enthaltene Fassung von „Free Bird“ immer noch ein Neunminüter. Und damit der perfekte Rausschmeißer aus dem Album.

Chartkracher

Erst als der Song ein Jahr später mit Blick auf Radio-Airplay stark eingekürzt und seiner Gitarrensoli beraubt wurde, wurde er zum Charts-Kracher – übrigens bis in die Gegenwart hinein: Denn in den USA und Frankreich konnte „Free Bird“ im März 2023 Platz 4 der itunes charts erobern bzw. im Juni 2022 sogar Platz 1 der Radio Charts.

Free Bird

„Free Bird“ ist ein Lied über die Sehnsucht nach grenzenloser Freiheit:

„Wenn ich morgen von hier weggehe,
würdest du dich noch an mich erinnern?
Denn ich muss jetzt weiterreisen.
Es gibt zu viele Orte, die ich noch sehen muss.
Aber wenn ich hier bei dir bleibe, Mädchen,
könnte das nicht dasselbe sein.
Denn ich bin jetzt so frei wie ein Vogel.
Und diesen Vogel kann man nicht ändern.“

Heute hier, morgen dort?

Vordergründig handelt „Free Bird“ von einem Mann, der seine Frau verlässt. Er kann sich einfach noch nicht durchringen, mit ihr gemeinsam an einem Ort zu leben und vielleicht sogar eine Familie zu gründen. Stattdessen will er lieber auf eine Art „Entdeckungsreise durch die Welt“ gehen, bevor er sich auf Dauer bindet. Eine feste, auf Dauer angelegte Beziehung und vor allem Sesshaftigkeit wären da nur hinderlich.

Hobo-Lyrik

Der Mann, der eine Zeitlang an einem Ort bleibt und irgendwann merkt, dass die Zeit weiterzuziehen gekommen ist – in den frühen 1970er Jahren gibt es etliche Songs mit diesem Thema. Und selbst das deutsche „Heute hier, morgen dort“ von Hannes Wader lässt grüßen. Doch das, was man vielleicht als „Hobo-Lyrik“ bezeichnen könnte, ist viel älter. Bereits Woody Guthrie, ein aufmerksamer Beobachter der Gesellschaft seiner Zeit, greift diese Thematik in vielen Songs auf: Nach dem US-amerikanischen Bürgerkrieg und in den später folgenden Wirtschaftskrisen des 20. Jahrhunderts ziehen entwurzelte Menschen auf der Suche nach Arbeit durch das Land. Dank des in den USA immer weiter ausgebauten Eisenbahnnetzes fahren sie versteckt in Güterzügen mit, immer in der Hoffnung, an einen Ort zu kommen, an dem sie bessere Lebensbedingungen vorfinden.

Zwei Millionen Menschen sollen allein in den USA im späten 19., frühen 20. Jahrhundert als Hobos unterwegs gewesen sein. Nach dem Vietnamkrieg flammt diese Zahl noch einmal auf. Damals sollen es rund 30.000 Menschen gewesen sein, die aufgrund zu geringer Sozialleistungen durch das Land irrten.

Drang nach Freiheit

Während bei den historischen Hobos vor allem die Schattenseiten des ungebundenen Lebens im Vordergrund stehen, blendet „Free Bird“ diese vollständig aus. Stattdessen verklärt der Song die Freiheit, die diese Lebensform bietet: frei sein, zu tun, wozu man Lust hat; sich von nichts und niemandem in sein Leben hineinreden zu lassen; ein Leben ohne jegliche Pflichten und Verpflichtungen zu führen.

Aus gutem Grund ist der Vogel die vergleichende Metapher: Frei zu sein, wie ein Vogel, der scheinbar sorglos von Ast zu Ast hüpft und dahin fliegt, wohin es ihn gerade treibt – das ist auch der Traum des freien und unabhängigen Musikers: „Heute hier, morgen dort“ steht er auf der Bühne, wird von seinem Publikum als etwas Besonders angesehen und gefeiert. Oder wie Ronnie Van Zant in den 1970er Jahren einmal Formulierte: „Der Vogel symbolisiert die Freiheit, er kann fliegen, wohin er will. Jeder will frei sein, darum geht es in diesem Land doch.“

Frei wie ein Vogel

In diesem Sinn argumentiert im Song auch der Mann gegenüber seiner Freundin, die er verlassen will:

„Denn ich bin jetzt so frei wie ein Vogel.
Und diesen Vogel kann man nicht ändern.“

Spätestens hier aber bricht die heile Welt zusammen: Einerseits drängt es den Protagonisten dazu, seinen Lebenstraum anzugehen; andererseits scheint er seine Frau zu lieben und es fällt ihm schwer, sie zurückzulassen.

Dilemma und Stoßgebet

In höchster Not fleht er in einem Stoßgebet:

„Herr hilf mir, ich kann mich nicht ändern.“

Der Ausgang des Dilemmas bleibt im Song bewusst offen. Das nachfolgende Gitarrensolo eröffnet einen Raum, in dem der Text wirken kann; in dem jede Zuhörerin und jeder Zuhörer Zeit genug hat, sich selbst in die Situation hineinzuversetzen und sie auf das eigene Leben zu übertragen. Wie würde ich in solch einer Situation handeln?

Song ohne Festlegung

Mit dieser Frage entließen Lynyrd Skynyrd ihr Publikum bewusst nach Hause. Denn „Free Bird“ wurde über viele Jahre die definitive Schlussnummer von Lynyrd Skynyrd-Konzerten. Das gilt auch nach dem 20. Oktober 1977 – jenem Tag, an dem Ronnie Van Zant, Gitarrist Steve Gaines, Backgroundsängerin Cassie Gaines und Manager Dean Kilpatrick neben anderen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen. Zehn Jahre nach diesem Unglück reformierte Van Zant-Bruder John die Band neu. „Free Bird“ blieb das Schlussstück der Konzerte. Allerdings war der Song für John so emotional besetzt, dass er ihn nicht singen konnten. Statt aber den vielgeliebten Song von der Setlist zu streichen, spielte die Band ihn instrumental und das Publikum übernahm den Gesang.

Optimaler „Rausschmeißer“

„Free Bird“ war nicht nur „der Rausschmeißer“ am Ende von Platte bzw. bei Konzerten – er avancierte auch zu einem Abschiedssong bei Beerdigungen. So schrieb jemand an John Van Zant, er habe „Free Bird“ zum Gedanken an einen Toten quasi als Liebeslied bei dessen Beerdigung gespielt.
Da passt es ganz gut, dass Lynyrd Skynyrd den Song während eines Konzerts dem damals verstorbenen Duane Allman von der Allman Brothers Band widmeten.

Freiheit in einem jenseitigen Leben

In einem Interview sagte Gründungsmitglied Gary Rossington, er sei sich sicher, dass die verstorbenen Ronnie Van Zant und Allen Collins ganz sicher von oben zuschauten und begeistert seien, dass ihre Musik immer noch so viele Menschen berühre. Am 5. März 2023 gesellte sich auch Gary Rossington zu seinen verstorbenen Bandkollegen – vielleicht in der Hoffnung, dass sie in einem jenseitigen Leben tatsächlich die Freiheit finden, nach der sie sich in diesem Leben gesehnt haben: Frei wie ein Vogel, ohne jegliche Verpflichtungen, ohne Ängste und Sorgen.

Lynyrd Skynyrd und „Free Bird“.

Der bei Classic Rock Radio gesendete Beitrag ist eine Kurzfassung dieses Textes.

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