Keine Science-Fiction, aber Horror der schlimmsten Art: 45 Jahre Giftgasunfall von Seveso (10. Juli)
Mögen Sie Science-Fiction- Storys? Geschichten, bei denen sich dem Zuschauer, Zuhörer oder Leser die Nackenhaare sträuben? Wie wäre es mit folgender Geschichte: Aus unerklärlichen Gründen welken die Blätter, verdorren die Pflanzen. Dann finden sich immer mehr tote Tiere auf den Weiden. Die Vermutung liegt nahe, dass sie etwas fraßen, was ihrer Gesundheit – nun ja – nicht gerade zuträglich war. Wie aus heiterem Himmel schließen dann die Behörden das örtliche Schwimmbad. Und fordern alle Anwohner auf, Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten – so herrlich biologisch angebaut – auf keinen Fall zu verzehren. Sondern umgehend zu vernichten. Na, wie gefällt Ihnen das? Falls das für Sie noch nicht genug Horror, Science und Fiction ist, lassen Sie uns noch eins draufsetzen: Reihenweise werden Kinder ins Krankenhaus gebracht, deren Körper mit entzündlichen Abszessen übersät sind. Und die Mediziner kapitulieren: keine Behandlungsmöglichkeit! Ist das jetzt genug an Science, Horror und Fiction?
Horror? Ja. Fiktion? Nein!
Egal ob ja oder nein: Ich muss Sie enttäuschen. Denn mit Fiktion hat das alles leider nichts zu tun. Horror und Fragen an Technik und Fortschritt, Fragen die Wissenschaft aber bleiben. Heute vor 45 ereignete sich im italienischen Seveso ein schwerer Giftunfall. Und bei allen Schrecken, die ich Ihnen noch einmal in Kurzform vor Augen geführt habe, hätte es sogar noch weitaus schlimmer kommen können. Denn schon 200 Gramm Dioxin, darum handelt es sich, in einer Wasserleitung und schon sterben Millionen von Menschen. Noch einmal: Mil-li-o-nen! Aufgrund von 200 Gramm! Dioxin ist rund tausend Mal giftiger als Zyankali.
In Seveso gab es „nur“ eine ausströmende Giftgaswolke. Trotzdem ist die Bilanz mehr als erschreckend: Vögel fallen einfach vom Himmel, 75.000 Tiere sterben oder müssen getötet werden, 30.000 Menschen sind betroffen. Die Verantwortlichen aber schweigen fein still. Als sie nach neun langen Tagen endlich sagen, um welches Gift es sich handelt, ist das Umland verseucht. Es wird später abgetragen und einbetoniert – in zwei Wannen so groß wie ein Fußballfeld. Ob in 100, 200 oder 1000 Jahre Archäologen wohl große Augen machen, was sie da plötzlich so ausbuddeln?
41 Fässer
Doch das ist noch lange nicht alles. 41 Fässer, vollgestopft mit dem Allergiftigstem, verschwinden spurlos. Es dauert sieben Jahre, bis sie wieder auftauchen: in einem 300-Seelen-Dorf in Nordfrankreich, versteckt in einem alten Schuppen, in Sichtweite der Dorfschule. Zu diesem Zeitpunkt sind in Seveso die Todesfälle aufgrund von Leukämie und Hirntumoren rasant gestiegen.
Gott-sei-Dank hat der zuständige Chemiekonzern fast 200 Millionen Euro Schadensersatz gezahlt; Gott-sei-Dank wurden schärfere Sicherheitsbestimmungen eingeführt. Doch das macht keinen der Toten wieder lebendig, nimmt keinem Schwerstverletzten seine Leiden.
Schutztechnik vorhanden. Aber zu teuer
Exakt 45 Jahre liegt der schwere Giftgasunfall von Seveso nun mittlerweile zurück. Zu seiner schrecklichen Bilanz gehört auch die Aussage eines Umweltschützers, die technischen Möglichkeiten, einen derartigen Unfall zu verhüten, habe es bereits vorher gegeben. Nur seien sie aus Kostengründen nicht genutzt worden. Das ist schlimm! Noch schlimmer aber ist es, dass wir Menschen daraus anscheinend nichts gelernt haben.
Nichte gelernt
Lecks in Öl- und Gasleitungen, die das Erdreich und die Atmosphäre verseuchen; ganze Inseln von Plastikmüll in den Ozeanen dieser Welt und
längst in den Körpern von Menschen und Tieren; der übermäßige Einsatz von Antibiotika in der Tiernahrung, die zu einem Wirkungsverlust bei uns Menschen führen; die Überdüngung der Böden mit Auswirkungen auf die Qualität des Grundwassers – die Liste ließe sich beliebig fortführen. Die Belastungen für unsere Planeten nehmen ungebrochen zu. Wie lange soll die Erde das alles eigentlich noch aushalten? Wobei man sich um die Erde an sich kaum Sorgen machen muss. Die eigentliche Frage ist, wie lange wir Menschen auf dieser Erde noch Zustände vorfinden, in denen wir leben, ja überleben können. Die Erde wird sich in ein paar Millionen Jahren nach der Existenz des Menschen wieder regenerieren. Wir allerdings haben nicht ganz so lange Zeit…Umweltschutz als Menschenrecht
Gegen Unfälle wie den von Seveso kann der Einzelne nicht viel tun. Gott gegeben sind sie aber nicht. Und so stellt sich schon die Frage, ob wir nicht unser persönliches Verhalten dahingehend verändern können, dass wir die Umwelt weniger belasten. Wir können ohne großen Aufwand beim Kauf von Produkten etwas mehr als bisher darauf achten, unter welchen Umständen sie hergestellt werden und welche Ökobilanz sie – letztlich auch durch den Transport um die halbe Welt – aufweisen. Und wir können unsere Politiker noch mehr in die Pflicht nehmen, noch stärker als bisher den Schutz von Menschen und Tieren in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen. Dass es längst eine ganze Reihe von Gesetzen gibt, die Umweltvergehen zu einem Straftatbestand machen können, ist ein guter Schritt in die richtige Richtung. Dass das EU-Parlament Schritte dazu eingeleitet hat, den Schutz einer intakten Umwelt quasi zu den Menschenrechten zu zählen, ist ein weiterer. Denn leider ist es wohl sehr menschlich, aus Fehlern der Vergangenheit nur sehr wenig zu lernen. Außer wenn Umweltsünder Freiheitsstrafen verbüßen müssen und es ihnen ans Portemonnaie geht. Keine feine Art der Mittel, aber eine, die Wirkung verspricht.
Momentaufnahmen, kurze Episoden in den Medien, flüchtige Eindrücke – und alles rauscht einfach vorbei? „Auch das noch“ zeigt die Skripte (leicht überarbeiteter) Rundfunkbeiträge aus dem öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Manche wurden sogar speziell für Heaven On Air geschrieben. Frei nach dem Motto: einfach mal einen Moment innehalten.
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