Blink-182 – I Miss You
Im November 2003 stellten Blink-182 ihr fünftes, selbstbetiteltes Studioalbum vor. Sehr zum Leidwesen ihrer Fans war es auch das letzte für lange Zeit: Da sich die Band in eine auch für Rocker ziemlich lange Pause verabschiedete, erschien der Nachfolger „Neighborhoods“ erst satte acht Jahre später.
Erwachsener geworden
Und dass, obwohl Album Nummer fünf für jede Menge Gesprächsstoff sorgte. Kritiker bescheinigten nämlich den Männern aus San Diego im US-Bundesstaat Kalifornien, endlich erwachsenen geworden zu sein. Das Album „Blink-182“ habe mehr Niveau, als alle vorherigen Alben zusammen, so eine Meinung, die die Songtexte im Blick hatte: Denn die waren weitaus weniger derb. Zwar war das Album „Blink-182“ zwar wie üblich mit dem Parental Advisory-Label „verziert“ – ein Anreiz zum Kauf, auf den die Band vermutlich auch nur sehr ungern verzichtet hätte. Wirklich berechtigt war dieses Label, das eigentlich zum Schutz von jungen und empfindlichen Seelen beitragen soll, jedoch nicht. Papa und Mama hätten also beruhigt sein können: Dieses Mal ging bei der Band alles ganz anständig zu. Zumindest weitaus anständiger also sonst.
Jazzbesen, Kontrabass, Cello
Zu diesem Eindruck tragen auch überraschend ruhige Piano-Parts bei. Und die ungewohnt vielen akustischen Elemente in „I Miss You“: Wahrscheinlich ist dies die einzige Blink-182 Komposition, bei der Schlagzeuger Travis Barker sein Instrument mit einem Jazzbesen streichelt. Und dass Bassist Mark Hoppus einen Kontrabass zupft, gehört auch zu den eher seltenen Ereignissen im ansonsten doch robusten und eher lauten Repertoire der Band. Da fällt das Cello, für eine Alternative Rockband nun auch nicht gerade das alltäglichste Instrument, fast schon nicht mehr ins Gewicht.
Albtraum
Und das alles ausgerechnet bei einem Song, dessen Stichwort „Albtraum“ gleich zu Beginn dafür sorgt, dass der dazugehörige Videoclip seine Szenerie in ein Spukschloss verlagert. Hier treffen sich grell geschminkte Frauen, jede Menge Spinnen und merkwürdigen Wesen, die rund um und im Schlossteich ihren Spaß haben. Da hätte man vom Song durchaus mehr Wumms erwartet. Aber gut, Geister und Albträume sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren.
Verletzlichkeit
Andererseits handelt der Song vom Verlust einer geliebten Person, von Einsamkeit und jeder Menge Verletzlichkeit – da sind die für Blink-182 eher ungekannten sanften Töne durchaus passend und angebracht. Tom DeLonge und Mark Hoppus singen:
„Du fehlst mir!
Hallo, du Engel aus meinem Albtraum,
der Schatten im Hintergrund der Leichenhalle,
das ahnungslose Opfer der Dunkelheit im Tal.
Wir können leben wie Jack und Sally, wenn wir wollen,
wo auch immer du mich finden kannst.
Und wir haben Halloween an Weihnachten.
In der Nacht wünschen wir, dass diese niemals endet.“
The Cure und Film „Nightmare Before Christmas“
Wer sich dank des Kontrabasses an The Cure erinnert fühlt – herzlichen Glückwunsch, 100 Punkte! Denn deren „The Lovecats“, in dem Phil Thornalley eben einen Kontrabass spielt, stand hier Pate. Und auch die Bezugnahmen auf den Film „Nightmare Before Christmas“ sind unverkennbar: In dem hat es ein Skelett im Nadelstreifenanzug, der Kürbiskönig, satt, mit all den Gruselgestalten seiner Stadt jedes Jahr Halloween schöner, größer und aufwändiger zu feiern. Sein Plan, Halloween und Weihnachten zusammenzulegen, stößt auf Widerstand bei seiner Geliebten Sally, einer Stoffpuppe.
Soweit zum Film, zu dem der Song auf besonderen Wunsch von Travis Barker Anspielungen enthält: Denn der hatte seiner damaligen Frau, dem Model Shanna Moakler, im einem Disneyland-Park einen Heiratsantrag auf einer Art Geisterbahn gemacht, die sich thematisch auf „Night Before Christmas“ bezieht.
Kampf gegen Dämonen
Jack und Sally leben im Film letztendlich in einer dämonischen, finsteren Welt – und schon stellt sich die Frage, mit welchen Dämonen sich Travis Barker herumzuschlagen hatte, als der Song entstand. Die Antwort liefert der Text:
„Wo bist du? Es tut mir so leid.
Ich kann nicht schlafen, kann heute Nacht nicht träumen.
Diese kranke, seltsame Dunkelheit
schleicht sich jedes Mal so eindringlich ein.
All die Unentschlossenheit, ob ich dich anrufen soll,
um deine Stimme des Verrates zu hören.
Wirst du nach Hause kommen
und diese Schmerzen heute Nacht beenden?“
Verrat
Deutlich wird in diesen Passagen die emotionale Ausnahmesituation, in der sich jemand nach einer Trennung befindet. Die Verletzlichkeit eines jeden Menschen und der damit verbundene Schmerz stehen im Vordergrund des Songs, der voller Melancholie und Sehnsucht die Abwesenheit der ehemaligen Partnerin beklagt. Sie ist es wohl, die die Beziehung beendet hat – eine Tatsache, die der Songtext als „Verrat“ bezeichnet.
Feindliche Realität
In der Wahrnehmung des Songs ist die Realität insgesamt feindlich – Liebe hat in ihr keinen Platz. Ganz im Gegensatz zum Fantasyfilm „Nightmare Before Christmas“, in dem Jack und Sally glücklich sind. Die zahlreichen Anspielungen auf diesen Film stehen stellvertretend für den Wunsch, in eine Phantasiewelt zu entfliehen und dort zu leben. Ausgeblendet wird dabei, dass es auch dort Probleme gibt – spätestens dann, wenn Jack und Sally über den Umgang mit Halloween und Weihnachten unterschiedlicher Meinung sind.
Verlustängste und Sehnsucht
In „I Miss You“ führen Attribute wie Schlaflosigkeit, Ängste und die Sehnsucht nach der verlorenen Liebe zu einer insgesamt düsteren Stimmung. Die Welt ist nun einmal nicht so rosig, wie es ein Lieblingsfilm glauben machen möchte.
Jemanden zu vermissen, mit dem man lange zusammen war – Blink-182 fangen dieses Gefühl von Sehnsucht, Trauer und Schmerz auf gefühlvolle Art und Weise ein, so dass sich in ihrem Song viele Menschen wiederfinden – auch diejenigen, die eine andere Form von Verlust zu beklagen haben. So zum Beispiel den Tod eines geliebten Menschen.
Trost und universelle Dimension des Songs
Trotz aller Düsternis und Ausweglosigkeit spendet der Song sogar Trost: Zwar ist alles in dieser Welt endlich, auch Beziehungen, auch das Leben. Zwar gehören schmerzhafte Verluste zum Leben. Weil aber alle Menschen früher oder später mit Verlusten konfrontiert werden, erhält „I Miss You“ eine universelle Dimension. Und für gläubige Menschen die Hoffnung, dass es in einer anderen, jenseitigen Welt ein Leben ohne Schmerz und Verluste geben mag.
Nachtrag für den, der sich über den ungewöhnlichen Bandnamen wundert: Ursprünglich hieß die Band lediglich „Blink“. Da aber eine irische Gruppe mit demselben Namen mit dem Urheberrecht wedelte, nannte sich die Männer aus San Diego kurzerhand in „Blink-182“ um. Offiziell geklärt ist die Bedeutung der Zahl nicht. Inoffiziell stand diese Zahl aus dem Film „Scarface“: In ihm sagt Al Pacino nämlich angeblich 182 Mal das Wort Fuck. Wer das nachgezählt hat, ist nicht überliefert!
Der bei Classic Rock Radio gesendete Beitrag ist eine Kurzfassung dieses Textes.
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