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Grace, Kenya – Strangers

Der Teaser erreichte auf TikTok satte 35 Millionen Aufrufe. Später gab es in einem Dutzend Ländern Platz eins, in gar zwei Dutzend Ländern eine Top Ten-Platzierung und „so ganz nebenbei“ sieben Mal eine goldene Schallplatte und sechs Mal eine Platin-Auszeichnung – keine schlechte Bilanz. Erst recht nicht für die Debütsingle einer Newcomerin. Denn „Strangers“ ist die erste Single, die Kenya Grace bei einer großen Plattenfirma veröffentlichte.

Vom Schlafzimmer in die Charts

Vorherige Songs entstanden während des Corona-Lockdowns im Schlafzimmer der 25jährigen. Na gut, „Afterparty Lover“, „Meteor“ und Kenyas erste echte Single „Oranges“ landeten auch schon in diversen Playlists. Aber mit dem Erfolg von „Strangers“ ist das alles nicht zu vergleichen. Da liegen Welten dazwischen! Über eine Million Streams innerhalb von 24 Stunden – das muss man erst einmal hinbekommen. Und ganz nebenbei ist „Strangers“ auch der zweite Charthit ever, der – traurig, dass man das überhaupt hervorheben muss – ausschließlich von einer Frau geschrieben, produziert und performt wird. (Der erste, „Running Up That Hill“ von Kate Bush, stammt im Original aus dem Jahr 1985 und wurde erst 2022 in einigen Ländern zum Charts-Topper.)

Südafrika, Norah Jones, Katie Melua und Soul

Geboren wurde Kenya Grace in Südafrika, aufgewachsen ist sie in England. In Kenyas Elternhaus wird schon früh das Interesse an Musik geweckt: Dort laufen immer wieder Soulplatten, dazu Songs von Norah Jones und Katie Melua – ein Einfluss, der heute durchaus in Kenyas Songs zu hören ist. Die frühe Begegnung mit Musik führt dazu, dass Kenya nicht nur früh zu singen beginnt, sondern mit zehn Jahren erste Gehversuche am Keyboard unternimmt und sich bereits in der Grundschule im Musiktheater erprobt.

Profi-Ausbildung

Am College reift der Entschluss, die Leidenschaft zum Beruf zu machen, was konsequent zu einer Ausbildung an der Academy of Contemporary Music in London führt. Aus den Lockdowns der kurz danach auftretenden Corona-Pandemie macht Kenya das Beste: In Livestreams auf Instagram stellt sie ihrer stetig wachsenden Fan-Gemeinde neue Songs vor.

Mit dem Deal bei einer Major-Company ist nun ein ganz neues Niveau erreicht. Für „Strangers“ arbeitet sie mit dem Produzenten Heavy Mellow zusammen, der bereits Songs von Marshmello, James Harlow und den Jonas Brothers produziert hat und in seiner Vita stolz auf drei Nominierungen für einen Grammy verweisen kann. Und wer weiß: Vielleicht bringt ihm „Strangers“ seine vierte Nominierung ein. Oder gar noch mehr.

Individuelle Arbeitsweise

Schon die Entstehung des Songs ist verblüffend: In Chandlers Ford, einem ländlich gelegenen Städtchen in der Nähe von Southampton, hat Kenya ein Zimmer mit direktem Blick auf den benachbarten Wald. In diesem Zimmer schreibt sie zuerst nur den Refrain für „Strangers“, nimmt ihn als Video auf, das sie bei TikTok und Insta hochlädt. Erst ein, zwei Wochen später entsteht der übrige Text. Danach, so wiegelt die Musikerin ab, habe man noch ein bisschen an der Produktion gearbeitet und den Song ziemlich zügig abgemischt. Fertig!

Strangers

Sicher mag der Blick auf den Wald vor dem Zimmerfenster meditativ und inspirierend wirken. Dass Kenya die Lyrics nahezu mühelos in die Feder fließen, hat einen anderen Grund: Sie schreibt sich nämlich Dinge von der Seele, und zwar Vorgänge, die ihr und in ihrem Bekanntenkreis in ähnlicher Weise wirklich passiert sind. In „Strangers“ singt sie:

„Es endet immer auf dieselbe Weise,
wenn es um zwei Menschen geht.
Und jedes Mal, wenn ich jemand Neues treffe,
ist es wie ein Déjà-vu:
Ich schwöre, das läuft immer gleich ab.
Und zwar so:
Wir steigen in dein Auto und du beugst dich vor, um mich zu küssen.
Wir werden stundenlang reden und auf dem Rücksitz liegen.
Und dann, eines Abends, wenn sich alles ändert,
wirst du nicht mehr antworten und wir werden wieder zu Fremden.“

Austauschbar

Heutzutage sei es unter jungen Menschen vielfach üblich, sich über einen längeren Zeitraum mit einem anderen Menschen zu treffen und intensiv auszutauschen – und dann schlagartig nichts mehr miteinander zu tun zu haben, so Kenya im Interview. Ein Zustand, mit dem sie sich nicht anfreunden kann:

„Es ist etwas, das ich hasse,
wie jeder so austauschbar ist.
Jedes Mal, wenn ich jemand Neues treffe,
fühle ich mich verletzlich
und dass sich das nie ändern,
sondern einfach so bleiben wird.
Niemals endende Verabredungen und Trennungen
… und wir werden wieder zu Fremden.“

Fluch der Dating-Apps

Als Schuldige für diese Art von Wegwerfbeziehungen macht die Sängerin Dating-Apps aus. Dank Tinder und Hinge sei es so einfach aufzugeben und zur nächsten Person zu wechseln. Und als ob es jemand die Hintergründe von „Strangers bezweifele, bekräftigt sie: Das sei wirklich ein großer Teil der Lebenswirklichkeit junger Menschen in ihrem Umfeld. Was bleibt, sind vor allem Fragen:

„Nun, hast du es jemals ernst gemeint?
Wie können wir sagen, dass dies Liebe ist,
wenn es so läuft?“

Distanz statt Geborgenheit

So etwas wie Liebe, Geborgenheit und grenzenloses Vertrauen, das ist klar, bleiben auf der Strecke. Betroffene fühlen sich verletzlich, können kaum noch vertrauen, merken, dass auch sie selbst austauschbar sind und verlieren somit ihr Selbstwertgefühl. Verloren geht das Bewusstsein, dass jeder Mensch auf seine Weise einzigartig und etwas Besonderes ist. Die Jagd nach immer neuen Reizen in immer neuen Beziehungen führt am Ende zum Gegenteil von dem, was man sich eigentlich erhofft hat: Statt Geborgenheit und Liebe entsteht schlagartig Entfremdung, Vertrautheit wandelt sich zu großer Distanz und Fremdheit. Man lebt die immer gleichen Verhaltensmuster. Und wird, meist ohne es zu merken, Schritt für Schritt beziehungsunfähig.

Verantwortung

Auch wenn Dating-Apps eine Ursache (neben vielen anderen) für Wegwerfbeziehungen sein mögen – per se schlecht sind sie nicht. Sie tragen auch nicht die Schuld an den Auswirkungen. Die Verantwortung liegt allein bei den Nutzern dieser Apps. Denn die praktizieren vielfach ein ständiges

„datin‘, breaking up“

mit Fremden, ohne sich über Konsequenzen Gedanken zu machen. Das hat auch etwas mit (mangelnder) Verantwortung für sich selbst, aber auch für andere zu tun.

Form und Inhalt

Beim ersten Hören mag „Strangers“ ein wenig monoton klingen. Genau darin liegt aber sogar die Stärke des Songs: Denn seine Form ergänzt, ja verstärkt sogar seinen Inhalt von den sich ständig wiederholenden Verhaltensmustern. Hinzu kommt Kenyas nahezu geflüsterte Stimme, die eine nachdenklich machende Melancholie hervorzaubert. So entsteht kaum merklich der eigentliche Impetus des Songs: sich eher traurige Lebensmuster und Verhaltensweise bewusstzumachen und darüber nachzudenken, wie man diese möglicherweise ändern kann.

Kenya Grace und „Strangers

Der bei Radio Salü gesendete Beitrag ist eine Kurzfassung dieses Textes.

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