Jethro Tull – The Zealot Gene
Es gibt Texte, bei denen man einfach nicht weiß, wie man sie beginnen soll. Nicht weil es an Kreativität fehlt. Sondern weil es einfach zu viele Möglichkeiten gibt. Aktuelles Beispiel: „The Zealot Gene“ von Jethro Tull.
Erstes Tull-Album seit 20 Jahren
Natürlich könnte man damit beginnen, dass es sich um das erste Jethro Tull-Album seit dem 2002er Werk „Living With The Past“ handelt. Aber nur, wenn man das „Christmas Album“ außer Acht lässt. Und nur dann, wenn man ignoriert, dass es Tull-Mastermind Ian Anderson mehr oder weniger egal ist, ob er seine Musik unter dem Gruppennamen oder unter seinem eigenen Namen veröffentlicht.
Dieser Blick würde den Einstieg „nach fast so langer Pause wie ABBA“ auch schnell als weniger spektakulär entlarven, als er wirklich klingt. Denn Alben unter seinem Namen – die hat Ian Anderson in den letzten Jahren immer wieder veröffentlicht.
Nächstes Album schon in Arbeit
Natürlich könnte man auch darauf hinweisen, dass Ian Anderson coronagepeinigt das Album schon längst auf dem Markt haben wollte… und bereits am nächsten Werk schraubt und werkelt. Vorgesehen für das Frühjahr 2023.
Ungeliebter Bandname
Vielleicht könnte man auch beim Bandnamen Jethro Tull anfangen und erzählen, dass Ian Anderson darüber nie besonders glücklich war. Der Agent der Gruppe verpasste Gruppe diesen Namen. Entlehnt hatte er den bei einem Pionier der britischen Agrarwissenschaften, einem gewissen Henry Jethro William Tull, geboren 1674. Diesen Namen kommerziell zu nutzen, sei ihm peinlich, so Ian Anderson einmal in einem Interview. Der hatte wohl an einen Phantasienamen geglaubt. Und woher sollte er das besser wissen, damals, vor über 50 Jahren? Google war ja noch lange nicht erfunden…
Gendern durch Flötentöne
Letzter Versuch: Wie wäre es mit einem Verweis darauf, dass Ian Anderson schon 1968 das Gendern begann? Die als weiblich geltende Flöte hart und männlich zu spielen und dabei wie ein Derwisch (männlich!) über die Bühne
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Das Album „The Zealot Gene“
Was also bleibt anderes übrig, als beim Album selbst zu beginnen? Erster Eindruck: „The Zealot Gene“ ist ein Jethro Tull-Album wie immer, wie zu besten „Locomotive Breath„-Zeiten. Was bedeutet: Es erinnert immer noch an den Prog Rock der 1970er Jahre, bedient sich verschiedener Elemente aus dem Bereich Rock, Folk und mittelalterlich anmutendem Minnesang. Und alles wird – wie eben fast immer – abgerundet durch Ian Anderson und sein wirklich einzigartiges Flötenspiel.
Starke Emotionen
Ebenfalls wie immer spiegeln die einzelnen Songs unterschiedliche Emotionen wider: Zwischen Liebe und Rache ist quasi alles dabei. Und auch Etliches darüber hinaus, wozu wir aber später noch ausführlicher kommen. Dass es um starke, menschliche Emotionen geht, macht schon der Albumtitel deutlich: The Zealot Gene – das Eiferer-Gen. Oder wenn man etwas schärfer übersetzen möchte: das Fanatiker Gen. Etwas also, was in jedem Menschen steckt, mehr oder weniger.
Zeloten in der Bibel
Womit wir vom Albumtitel endlich auch zum gleichnamigen Titelsong kommen: Wer dem eigentümlichen Namen „Zealot“ nachgeht, kommt an der Bibel nicht vorbei – aber auch das ist nichts Neues bei Ian Anderson, der sich ja seit Jahrzehnten als spirituell-religiöser Geschichtenerzähler inszeniert. „Zealot“ verweist auf die Zeloten – zur Zeit Jesu eine der gesellschaftlichen Gruppen, die sich am meisten gegen die Römer als Besatzungsmacht wehrten.
Splittergruppe: Die Sikarier (Dolchmänner)
Eine Splittergruppe von ihnen, die Dolchmänner, schreckten dabei auch vor Attentaten gegen die römischen Besatzer nicht zurück. Bis heute werden Gelehrte nicht müde, den Namen Judas Iskariot lautmalerisch den Sikariern, Fachbegriff für die Untergruppe der Zeloten, der „Dolchmänner“ also, zuzuordnen. Passt ja auch prima, wenn man tatsächlich der Meinung ist, dass dieser Judas von Jesus einen Aufstand gegen die Römer erwartete und, da der ihn enttäuschte – liebe deine Feinde und so weiter – ihn dann an die Römer verriet. Möglicherweise in der Hoffnung, dass die Gefangenname und Hinrichtung Jesu ganz automatisch einen Volksaufstand auslösen würde. Was allerdings nicht geklappt hat.
Emotionen und Bibelzitate
Zurück zu Ian Anderson: Am Anfang habe er positive Begriffe wie Liebe, Passion, Loyalität und Gemeinschaft auf ein Blatt Papier geschrieben, sagt der im Interview. Und anschließend negative Emotionen wie eben Hass, Rache, Eifersucht und Wut – allesamt Begriffe, die er seit seiner Kindheit aus der Bibel kannte. Zu diesen Emotionen suchte sich Anderson dann passende Textpassagen aus der Bibel und schrieb die sogar zu den einzelnen Songs ins Booklet. Irgendwie naheliegend, dass beim Song über die Frau des Enola Gay-Piloten Paul Tibbet, also jenem Mann, der die Atombombe nach Hiroshima flog, eine biblische Passage angemerkt ist, in der es Schwefel und Feuer vom Himmel regnet. Ob allerdings Hiroshima denselben Stellenwert hat wie die Sündenstädte Sodom und Gomorrha, um die es in der verwendeten Bibelstelle geht, steht auf einem gänzlich anderen Blatt.
Der Titelsong „The Zealot Gene“
Bleiben wir beim schönen Wort „wie immer“: Wie immer ist es Ian Anderson so ziemlich egal, ob die Hörer genau verstehen, was er mit seinen Texten sagen will. Wie immer sollen sich die Hörer ihr eigenes Bild machen. Was auch notwendig ist, bei Texten, die sich sperrig geben wie der des Titelsongs „The Zealot Gene“:
Von Pudding, Apfel, Kuchen und verpasstem Bus
„Die eine Hälfte von uns steckt im Apfel,
die andere im Kuchen.
Aber wir alle stecken im Pudding.
Wenn der letzte Bus weg ist,
musst du eben über die Hauptstraße laufen.
Irgendjemand muss das Bett machen!
Niemand hat das Recht, dir zu sagen,
dass du dich zur Ruhe legen sollst,
wenn alles gesagt ist.“
Gegen Stereotype und Klischees
Ja, der gute Herr Anderson macht es uns Hörern mal wieder nicht leicht. Vielleicht kann man so viel festhalten: Es gibt Dinge im Leben, die sind einfach so. Bei denen macht es keinen Sinn sie zu diskutieren. Wenn der letzte Bus weg ist, ist er eben weg. Worüber sich Ian Anderson aber ärgert, das ist
„…die Schwarz-Weiß-Malerei, stereotype Klischees und
polarisierender Umgang miteinander.“
Gegen Populisten und Hassprediger
Spätestens jetzt wird klar, dass sich der Magier der Flöte die Populisten unserer Zeit vornimmt. Die, bei denen das Zealot-Gen auf ganz besondere Weise zum Ausdruck kommt. Für die gäbe es nur Rechts und Links, kein Dazwischen, keine Grautöne. Deshalb warnt der 74jährige eindringlich vor diesen Zeitgenossen:
„Vorsicht, Vorsicht vor dem Zealot-Gen.
(Das ist wie eine) offene Flamme in der Nähe von Benzin!
Der Populist mit seiner dunklen Anziehungskraft, die Begünstigung von Hass,
die die fremdenfeindlichen Panikmacher auf einem Teller anrichten,
um den nagenden Hunger zu bändigen.“
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Nicht im herkömmlichen Sinne religiös
Er sei nicht unbedingt im herkömmlichen Sinne religiös, beeilt sich Ian Anderson angesichts der Bibelzitate anzumerken. Eine eher schillernde Formulierung angesichts der Texte, Gedanken und auch der Art und Weise, wie sich Anderson seit über 50 Jahrzehnten selbst inszeniert. Fast klingt es, als wolle er sagen: zumindest in dem Sinne, wie die etablierten Kirchen Religiosität verstehen, würde er sich nicht als religiös bezeichnen.
Hetzer und Spalter versus Nächstenliebe
Wie auch immer: Eine klare Haltung gegen Populismus und Fremdenhass bezieht Anderson allemal. Denn die führen nur ins Chaos, sind das Gegenteil von dem, was die vom Sänger vielfach zitierte Bibel von den Menschen will. Denn die biblische Botschaft lässt sich letztlich auf die Zehn Angebote Gottes für ein gelingendes, friedliches Leben reduzieren. Und selbst diese Zehn Angebote kann man zusammendampfen zum kurzen Wort von der „Gottes- und Nächstenliebe“.
Hetzer und Spalter führen ins Verderben
Gerade so als wolle Ian Anderson sagen: Alles, was damit nicht unter einen Hut zu bringen ist, birgt die Gefahr, dass am Ende nur Unfug herauskommt. So wie es eben auch die Bibel beschreibt, wenn Menschen ihre Vorstellungen in rücksichtsloser Hybris umsetzen und dadurch sich und andere ins Verderben führen.
Warnung
Eine Lösung aus der gegenwärtigen Situation kann Ian Anderson allerdings nicht anbieten. Er kann nur warnen vor populistischen Politikern, vor der Wut und der Bösartigkeit, mit der immer mehr Zeitgenossen ihr „Zealot Gene“ in den Sozialen Medien ausleben. Warnen, vor denen, die Menschen gegeneinander aufhetzen und dabei die Gesellschaft spalten. Spannend, dass er im Interview den seinerzeitigen US-Präsidenten Donald Trump ausdrücklich erwähnt… und fast erleichtert anmerkt, dass der ja weg sei. Um fast schon sorgenvoll darauf zu verweisen, dass damit leider keine Lösung erreicht sei, da es ja viele solcher Populisten, Hetzer und Spalter gebe. Ob er dabei wohl auch nach Downing Street No. 10 geschielt hat, bleibt sein Geheimnis.
Einschätzung eines weisen 74jährigen
„Hier ist endlich die Songsammlung, auf die ihr überhaupt nicht gewartet habt“, schreibt Ian Anderson augenzwinkernd zur CD, an der er ganze fünf Jahre lang gearbeitet hat. Mag sein, dass er Recht hat, und viele ein neues Jethro Tull-Album tatsächlich nicht mehr erwartet haben. Dass aber einer wie er gegen den fortschreitenden Populismus und gegen Hassprediger unserer Zeit Stellung bezieht, seine eigene Wut über die Mechanismen unserer modernen Gesellschaft eben auch als 74jähriger noch in die Welt hinausposaunt, ist aller Ehren wert. Schließlich habe er nicht mehr viel Zeit, so Anderson mit Blick auf sein Alter und die Corona-Pandemie, die viele Bereiche der Gesellschaft, eben auch die Kultur, so unglaublich lähmt.
Zelaot Gene zügeln
Selbst wenn Ian Anderson es seinen Hörern nicht leicht macht: dass wir alle (siehe „Apfel“, „Kuchen“ und „Pudding“) unser „Zealot Gene“ möglichst ein bisschen zügeln sollten, um unsere Gesellschaft friedlicher und menschenfreundlicher zu gestalten, ist das Mindeste, was man von Andersons Aussagen kapieren sollte. Bleibt zu hoffen, dass diese Worte Wirkung zeigen.
Ian Anderson und Jethro Tull mit dem Titelsong ihres neuen Albums „The Zealot Gene“.
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