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Giesinger, Max – Butterfly-Effect

Schon der alte Shakespeare wusste: „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als sich eure Schulweisheit träumen lässt.“ Damit wollte der englische Dichter seinen Helden Hamlet sagen lassen: Wir Menschen haben eine begrenzte Vorstellungskraft, können immer nur bis zum Rand des Tellers denken, auf dem wir stehen. Aber es gibt viel, viel mehr im Leben und in der Welt, als das, was wir kennen und wahrnehmen.

Chaostheorie

Hätte Shakespeare 1623, als er sein Schauspiel „Hamlet“ veröffentlichte, bereits die „Chaostheorie“ gekannt, hätte er vermutlich auch auf diese angespielt: dass wir uns nämlich gar nicht vorstellen können, dass auch kleinste Ereignisse gewaltige, unerwartete Reaktionen auslösen können.

Jurassic Park

Der Begriff „Chaostheorie“ wird einem großen Publikum erst ab 1990 und damit mehr als 350 Jahre nach Shakespeares „Hamlet“ bekannt: 1990 nämlich veröffentlicht Michael Crichton seinen Roman „Dino Park“. Drei Jahre später bringt Steven Spielberg eine ziemlich freie Verfilmung des Romans unter dem Titel „Jurassic Park“ in die Kinos. Das Einspielergebnis von weltweit knapp einer Milliarde US-Dollar und drei Oscars sprechen für sich. Damit wird Jurassic Park umsatzstärkster Film der Welt – zumindest solange, bis Titanic, Avatar und Avengers ihm die Pole Position wieder abnehmen.

Ich hasse es, immer Recht zu haben!

In „Jurassic Park“ verkörpert der Schauspieler Jeff Goldblum den Mathematiker und Chaostheoretiker Ian Malcolm. Spätestens durch ihn weiß jeder Zuschauer: Es gibt Dinge, die Menschen trotz genauester Überlegungen und Berechnungen einfach nicht ausschließen können. Schon kleinste Veränderungen können bestehende Systeme völlig aus den Angeln heben. In „Jurassic Park“ löst letztlich – wie könnte es anders sein – menschliche Habgier eine Kettenreaktion aus, an deren Ende der Verlust der Kontrolle über einen geklonten Tyrannosaurus Rex steht. (Weitere Filme der Reihe zeigen, dass auch dies nur der Anfang für weit mehr Unheil ist, das nun über die vermeintlich zivilisierte Welt hereinbricht.) Ian Malcolm kommentiert den Ausbruch des gewaltigen Dinosauriers mit den Worten: „Ich hasse es, immer Recht zu haben!“ Bei Shakespeare, also wie gesagt über 350 Jahre früher, klang das noch ganz anders. Da nämlich gibt Hamlet seinem Freund Horatio den Rat, er möge diese unvorhersagbaren Ereignisse willkommen heißen.

Flügelschlag eines Schmetterlings

Zugegeben: Der Vergleich zwischen Hamlet und Ian Malcolm mag in vielerlei Hinsicht hinken. Spannend ist es aber schon, sich mit Auswirkungen von Unvorhersehbarem zu beschäftigen. 1972 tat dies der US-amerikanische Meteorologe Edward N. Lorenz im Bereich der Nichtlinearen Dynamik. Was kompliziert und sperrig klingt, veranschaulichte der Wissenschaftler durch die nachvollziehbare Frage, ob der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien wohl einen Tornado im US-Bundesstaat Texas auslösen könne. Durch sein Beispiel des flügelschlagenden Schmetterlings prägte Lorenz den Begriff „Butterfly-Effect“. Im Deutschen ist in der Folge vielfach auch vom Schmetterlingseffekt die Rede.

Butterfly-Effect in der Psychologie

Sein damaliger Vortrag ging weit über die Meteorologie hinaus und wurde innerhalb kürzester Zeit zu einem Bestandteil der Psychologie. Das knapp gefasste Ergebnis: In sozialen Systemen können selbst kleinste Entscheidungen und daraus resultierende Handlungen, ja, sogar bloße Gedanken große und unvorhersehbare Folgen auslösen. Und was für Systeme gilt, gilt auch für den einzelnen Menschen und seine Beziehungen: ein einzelnes Gespräch oder eine unerwartete Situation können gleich eine ganze Kette von Ereignissen auslösen, die das gesamte Leben eines Menschen völlig verändern. Und aller, die mit ihm in Beziehung stehen.

Manch einer „zu heiß gebadet“

Und so fragt man sich bis heute bei manch einem Menschen, was wohl in seiner Vergangenheit passiert ist, dass er heute so ist wie er ist. Die in Deutschland 1961 erschienene Komödie „Zu heiß gebadet“ (Originaltitel: The Ladies Man) hat zwar inhaltlich nichts mit der Thematik zu tun. Aber das Werk von und mit Jerry Lewis führte später zu dem Idiom, wonach ein verhaltensauffälliger Mensch gern als Person bezeichnet wurde, die schlichtweg irgendwann einmal „zu heiß gebadet“ wurde. Was ist da wohl in seiner Kindheit schiefgelaufen…?

Butterfly-Effect bei Max Giesinger

Mehr als 50 Jahre nach der Formulierung des Begriffs „Butterfly-Effect“ und dessen Fußfassen in der Psychologie geht der deutsche Singer/Songwriter Max Giesinger dem nun hinreichend beschriebenen Phänomen nach. In seinem Song „Butterfly-Effect“ geht er zurück bis zum Urknall, landet aber – ratzfatz – in der Gegenwart.

„Wäre uns am Anfang nicht alles um die Ohren geknallt,
wäre die Erde ein unbelebter Punkt im All,
hätten wir nicht Häuser, Straßen und dann Städte gebaut,
nicht an Götter, Märchen oder Liebe geglaubt;
hätte es Opa damals nicht aus‘m Krieg geschafft,
hätte Oma ihm dann nicht schöne Augen gemacht,
wäre mein Vater nach der Disco mit ‘ner andern nach Haus,
hätte Mama sich nicht den ersten Kuss getraut;
wäre das nicht alles so passiert,
dann wäre ich jetzt nicht hier bei dir.“

Auflösung im Refrain

Im Refrain kommt Giesinger zum Ergebnis:

„Wäre irgendwas irgendwann
anders ausgegangen,
wären wir irgendwann irgendwo
anders abgebogen
dann hätten wir uns nie entdeckt:
Butterfly-Effect.“

Urknall am Anfang der Ereigniskette

Die Botschaft in Giesingers Song ist vielschichtig. Indem er bis zum Urknall

zurückgeht, scheint er zeigen zu wollen: Alles hat eine gemeinsame Ursache, alles ist in irgendeiner Weise mit anderen Dingen, Personen oder Ereignissen verbunden. Alles gehört zu einer faszinierenden Kette von vermeintlichen Zufällen, die menschlichen Leben ausmacht. Besonders gilt dies für die familiären Bindungen, die in „Butterfly-Effect“ weit über nostalgische Erinnerungen hinausgehen: Letztlich sind es die vorhergehenden Generationen, die durch ihre Entscheidungen den Weg nachfolgender Generationen bereits in eine bestimmte Richtung gelenkt haben.
Keine neue These, denn schon verschiedene Religionen betonen die Bedeutung der Ahnen und gehen zum Teil sogar von einem direkten Einfluss auf Nachgeborene aus. Dann allerdings wären die vielen Ereignisse während eines menschlichen Lebens alles andere als zufällig.

Vorherbestimmung im Christentum

Im Christentum ist es Gott, der für jeden Menschen eine Idee für ein gelingendes Leben hat. Begrifflichkeiten aus der Bibel wie „göttlicher Ratschluss“ und „guter Plan Gottes“ sind dabei schillernd und nicht eindeutig. Daher wird die Vorstellung der Vorherbestimmung durchaus unterschiedlich interpretiert: Eine Interpretation geht davon aus, dass im Leben eines Menschen jedes Detail von Gott vollständig vorherbestimmt ist (sog. Prädestination). Eine andere Richtung lehnt diese Vorstellung ab. Sie sieht in ihr eine Einschränkung der menschlichen Freiheit, die ja von Gott geschenkt sei. Daher habe der Mensch grundsätzlich die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden, auch gegen “Gottes guten Plan”, und somit selbst Einfluss auf seinen weiteren Lebensweg zu nehmen.

Leben ist von Gott gewollt

Trotz dieser unterschiedlichen Interpretationen geht das Christentum in beiden Traditionen davon aus, dass menschliches Leben kein Zufall ist, sondern auf göttlichem Wirken basiert. Leben ist also ein Geschenk Gottes. Daraus allerdings erfolgt für jeden Menschen die Verpflichtung, auch das Leben anderer Menschen zu achten und sich ggf. für sie einzusetzen. Denn auch ihr Leben ist von Gott geschenkt – letztlich also die Basis der christlichen Nächstenliebe. Die jedoch ist nie losgelöst von Gott, wie der Evangelist Matthäus verdeutlicht: „Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan!“ (Mt 25,40). Nach dieser Vorstellung ist also in jedem Menschen auch Gott vorhanden. Das, was Theologen „Liebe Gottes“ nennen, vollzieht sich da, wo Menschen füreinander sorgen.

Keine anderen Hände als eure

Im 16. Jahrhundert folgert Theresa von Avila daraus: „Gott hat keine anderen Hände als unsere Hände.“ Oder um auf den Butterfly-Effect zurückzukommen: Selbst kleine „Taten“ wie Gebete und konkrete Hilfe im Alltag bewirken Veränderungen im Leben anderer Menschen. Insofern sind es wir Menschen, die die Welt besser und gerechter machen können.

Fiction: Zukunft verändern durch Eingriff in die Vergangenheit

Max Giesinger ist kein Theologe – er ist Künstler. Und er weiß daher, dass sich das Leben nicht im Konjunktiv abspielt. Dass es also müßig ist, der Frage nachzugehen, was wohl passiert wäre, wenn an einer einzigen der vielen Gelenkstellen die jeweilige Entscheidung eine andere gewesen wäre. Denn dann kämen auf ein gelebtes Leben möglicherweise Millionen völlig anderer Leben. (Genau der Grund, warum Zeitreisen in Filmen der Terminator-Reihe, im US-Kinofilm „Butterfly Effect“ [sic!] von 2004 und viele andere gern in der Vergangenheit Entscheidungen revidieren, um eine veränderte Zukunft zu erzeugen.)

Staunen statt Hadern

Das weitverbreitete „Hätte, hätte, hätte“ führt realistisch betrachtet ohnehin oft nur zu einer negativen Grundstimmung: Hätte jemand dies oder das nicht getan, dann wäre uns dieses und jenes erspart geblieben. Der 36jährige Sänger aus dem Badischen hingegen verwendet die Metapher vom Butterfly-Effect ohne Ressentiments, sondern durchweg positiv:

„Ist doch krass, schon ‘ne Kleinigkeit
setzt ‘ne Kette in Bewegung und verändert die Zeit.
(Wir) werfen Steine in den See und schauen den Wellen zu,
machen Zukunft neu, mit allem, was wir tun.“

Dankbarkeit und Demut

Aus diesen Worten spricht nicht nur tiefe Dankbarkeit für das Leben, sondern auch eine gewisse Demut für das Geschenk des Lebens. Denn aus allen vorangegangenen Entscheidungen ergibt sich die Liebe zu einem anderen Menschen. Diese Erfahrung ist wie der Höhepunkt aller vorangegangenen Ereignisse und steht bei Giesinger daher folgerichtig am Ende seines Songs. Da singt er:

„Es gibt Wunder in großen und in kleinen Dingen:
Irgendwann entstand der allererste Schmetterling.
Ich verdanke ihm und seinem Flügelschlag,
dass ich jetzt hier lieg’ mit dir in meinem Arm.“

Eigenen Kräfte mobilisieren

So wird aus der Metapher vom „Butterfly-Effect“ eine spirituelle Kraft, die in jedem Menschen steckt. Und Giesingers Song zu einer Aufforderung an seine Hörerinnen und Hörer, diese Kraft in sich zu suchen, zu entdecken und anderen Menschen gegenüber anzuwenden.

Max Giesinger – „Butterfly-Effect“

Der bei Radio Salü gesendete Beitrag ist eine Kurzfassung dieses Textes.

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