Costello, Elvis & Attractions, The – Accidents Will Happen
Unfälle, unvermeidliche Begegnungen, Dinge, die einfach unvorhergesehen passieren – so könnte die Überschrift über einem der erfolgreichsten Songs von Elvis Costello und seiner Band The Attractions lauten. In „Accidents Will Happen“ verarbeitet der Mann, dessen Name mit Declan MacManus im Taufschein steht, wie auch später noch so oft sein Innenleben. Geschrieben hat Elvis Costello den Song 1978, als seine erste Ehe in einen Scherbenhaufen mündete.
Elvis und die Taxifahrerin…
Der Ur-Unfall und damit so etwas wie die Initialzündung für den Song erfolgt während einer Tour durch den Südwesten der USA: In Tuscon steigt Costello nicht nur in ein Taxi, sondern landet kurze Zeit später im Haus der Taxifahrerin und in ihrer Kiste. Anschließend fährt ihn die Frau ins Hotel, wo der Musiker in Schuldgefühle und Reue verfällt. Weil aber das Hotel ziemlich hellhörig ist, wird er unfreiwilliger Zeuge des Liebesspiels eines Pärchens im Nachbarzimmer – unvorhergesehene Dinge passieren nun mal.
Popsong, keine Beichte
Die Episode ist nur eine von vielen, in denen sich Costello sowohl als Ehemann wie auch als Vater als Versager vorkommt. Eine von vielen Episoden, die er exemplarisch festhält, um zu einer möglichst plastisch wirkenden Schilderung zu kommen. Eine Episode stellvertretend für die ganze Wahrheit. Erst Jahre später bekennt Costello, dass das angebliche Ereignis zumindest in großen Teilen seiner Phantasie entspringt. Ein Popsong, keine Beichte! Aber die passt in der von ihm erzählten Form hervorragend zum Titel und zur Geschichte des Songs. Denn unvorhergesehene Dinge passieren nun mal.
Spät auf Album
Was den Song anbelangt, gibt es noch ein paar unvorhergesehene Dinge zu berichten: So war das Album „Armed Forces“ aufgenommen, als sich Elvis Costello entschloss, „Accident Will Happen“ doch noch in die Setlist aufzunehmen. Schade für „Clean Money“, das dafür weichen musste und erst zwei Jahre als Single B-Seite von „Clubland“ veröffentlicht wurde. Aber wie war das noch? Unvorhergesehene Dinge passieren nun mal!
Absolut nicht unvorhergesehen war das Cover der Single: Um nämlich auf das unmögliche Mögliche aufmerksam zu machen, druckte man das Cover kurzerhand seitenverkehrt – längst ein gefragtes Sammlerstück, da die Auflage mit diesem Cover deutlich kleiner ist als eine spätere mit dem richtig gesetzten.
“Accidents Will Happen“ und ET
Was aber unvorhergesehene Dinge anbelangt, die einfach passieren, gibt es noch eine kuriose Geschichte: Dazu muss man beim 1982er Hollywood-Blockbuster „ET“ ganz genau hinschauen und hinhören: Elliot, der Zehnjährige, der ET findet und versteckt, hat einen älteren Bruder Michael. Und der singt irgendwann im Film zwei Zeilen von „Accidents Will Happen“. Zugegeben, man muss wirklich genau hinhören, um den Song zu erkennen. Vermutlich flossen deshalb auch keine Tantiemen. Ob überhaupt eine Bitte um Freigabe eingegangen war oder man seinerzeit lächelnd zugestimmt habe, wusste Elvis Costello später nicht mehr. Was er allerdings wusste: Zu diesem Zeitpunkt hatte niemand geahnt, dass sowohl „ET“ wie auch „Accident Will Happen“ so erfolgreich sein würden. Wie wir längst wissen: Unvorhergesehene Dinge passieren nun mal…
Wie ein großes Puzzle
Der Text von „Accidents Will Happen“ wirkt wie ein großes Puzzle: Solange man nur einzelne Teile betrachtet, weiß man noch nicht, wie es aussehen wird. Aber Schritt für Schritt nähert man sich dem Gesamteindruck. Elvis Costello singt:
„Ich weiß einfach nicht, wo ich anfangen soll.
Obwohl es heißt, ich werde ewig warten,
ist es jetzt oder nie.
Aber du hältst etwas zurück.
Die Silbermedaillengewinnerin sagt
sie kann nicht ohne Begleitperson nach Hause gehen,
Es gibt so viele Fische im Meer,
die nur im Schweiß aufsteigen und rauchen wie Quecksilber.
Aber sie halten dich hin, sagen, du bist so jung.
Du hast dich entschieden, aber deine Rechnung geht nicht auf.
Unfälle passieren.“
Verschiedene Episoden
Episode um Episode reiht Costello in seinem Song aneinander. Damit man nicht zu schnell darüber hinweghuscht, müssen sie erst entschlüsselt werden: Die Silbermedaillengewinnerin mag als Person stehen, die trotz ihrer persönlichen Fähigkeiten nach einer – möglicherweise spirituellen – Führung sucht. Das Quecksilber lässt sich als alchemistisches Element interpretieren und damit als ein Hinweis darauf, dass sich das Leben – wie eben dieses Element in der Alchemie – zwischen Realität und transzendentaler Sehnsucht abspielt.
Zwang zum Nachdenken
Indem er viele kleine Episoden aneinanderreiht, zwingt Elvis Costello seine Zuhörerinnen und Zuhörer zum Nachdenken. Nahezu meisterhaft gelangt er dadurch zu der Erkenntnis, die er im Refrain präsentiert:
„Unfälle passieren – wir werden alle überfahren!“
Hilflos dem Schicksal ausgeliefert
Niemand, so die Botschaft des Songs, kann dem zufälligen Aufeinandertreffen von Schicksalsschlägen entkommen. Glück und Unglück sind nur ein winziger Moment im großen kosmischen Spiel, dem der Mensch hilflos ausgeliefert ist.
Das klingt resigniert und fatalistisch, klingt so, als ob das eigene Handeln keinerlei Einfluss auf das weitere Geschehen habe. Das aber wäre eine zu einfache Entschuldigung für alles, was schief geht. Schuld wäre dann immer das Schicksal, bestenfalls noch die bösen Anderen. Aber man selbst sind nie.
Schuld sind das Schicksal oder die Anderen?
Ein Gedanke, der für Elvis Costello unerträglich ist. Er singt:
„Ich will das nicht mehr hören,
denn ich weiß, was ich getan habe.
Es ist der Schaden, den wir anrichten und von dem wir nie erfahren.
Es sind die Worte, die wir nicht sagen, die mir solche Angst machen!“
Ohne Verantwortungsgefühl
Mit Blick auf seine eigene Biographie sagte Elvis Costello einmal, 1978 sei er jung und frisch berühmt gewesen, hätte keinerlei Verantwortungsgefühl besessen. Die Versuchung sei gekommen. Und er habe ihr mehr nachgegeben als er das hätte tun sollen.
Diese Position enthält auch „Accidents Will Happen“: So führt die wiederholte Aussage „Ich weiß, was ich getan habe“ gegen Ende des Songs zu einer zigfachen Wiederholung des selbstkritischen „Ich weiß!“ Diese zwei Worte, zudem zigfach wiederholt, enthalten die gesamte Zerrissenheit Costellos zwischen Erkenntnis und Ohnmacht – ein Kampf, der die aufmerksame Zuhörerschaft nahezu mitleiden lässt. Als Ergebnis tritt die eigene Unzulänglichkeit zutage.
Ich weiß, was ich getan habe!
Denn es wird deutlich: Nicht das Schicksal ist schuld, nicht andere, sondern man selbst hat eine Verantwortung für das, was man tut, vor allem, was man anderen antut. Das gilt übrigens auch da, wo man sich nicht um andere kümmert, sie in einer schwierigen Situation im Stich lässt. Costello nimmt also die Schuld für sein eigenes Fehlverhalten auf sich. Eine Einsicht, zu der er dadurch gelangt ist, dass er über viele Ereignisse aus seinem Leben nachdenkt, indem er sich an sich vorüberziehen lässt – genau die Episoden und vermutlich einige mehr, an denen er auch seine Zuhörerinnen und Zuhörer Anteil haben lässt.
Reflexion, Eingeständnis der eigenen Schuld, Reue, Besserung
Über sich selbst nachdenken, die eigene Schuld anerkennen und bereuen und danach sein Leben so ausrichten, dass man einmal begangene Fehler vermeidet – das erinnert an das christliche Prinzip von Schuld und Buße, die Voraussetzung für eine mögliche Vergebung sind. Oder anders formuliert: für mehr Glück im eigenen Leben.
Diese Weiterentwicklung ist bereits im Song ablesbar:
„Früher war ich ein Opfer.
Jetzt bist du nicht mehr allein!“
Bemühen um eine bessere Welt
Was heißt: Früher habe ich alles als Schläge des Schicksals hingenommen. Heute kämpfe ich wie du für eine bessere Welt.
Letztlich fordert der Song dazu auf, unvorhergesehene Dinge als unausweichlich zu akzeptieren, sie aber nicht als Vorwand für ein verantwortungsloses eigenes Handeln zu missbrauchen. Und ganz nebenbei zeigt der Song auch, dass es notwendig ist, mit seinen eigenen Fehlern ins Reine zu kommen und mit sich selbst Frieden zu schließen.
Elvis Costello & The Attractions – „Accidents Will Happen“
Der bei Classic Rock Radio gesendete Beitrag ist eine Kurzfassung dieses Textes.
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