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Who, The – Baba O’Riley

Als The Who 1971 den von Pete Townshend geschriebenen Song „Baba O’Riley“ veröffentlichte, machte der zumindest Gelegenheitsfans ratlos. Was, bitte schön, sollte denn dieser Titel bedeuten? Lexika halfen nicht weiter. Zudem kam dieser merkwürdige Songtitel innerhalb der Lyrics

Teenage Wasteland

noch nicht einmal vor. Kreativ wie Rockfans nun einmal sind, verpassten sie dem Song einen anderen Titel: Gleich mehrfach taucht im Song die Formulierung „Teenage Wasteland“ auf. Und genau darum ging es ja auch im Song: um die raue Realität des Lebens für Jugendliche und um eine alles in allem öde, wenig hoffnungsvolle Zukunft.

Mitten auf die Zwölf

Irgendwie passte dieser Songtitel hervorragend zu dieser Band, die deutlich aggressiver als die Kinks oder die Rolling Stones auftrat. Und die während eines einzelnen Gigs auch schon mal Instrumente und sonstiges Equipment in einem höheren Wert zertrümmerte, als die abendliche Gage überhaupt einbrachte. The Who – das waren doch genau die vier jungen Londoner, die bereits 1965 mit „My Generation“ die vielleicht erste echte Jugendhymne des Rock veröffentlicht hatten. Hat es jemals wieder ein Rocksong geschafft, die ganze Aussichtslosigkeit, Wut und Frustration von Jugendlichen so gnadenlos auf drei Minuten zu bündeln? Wohl kaum.
Zeilen wie „I hope I die before I get old“ trafen einfach mitten auf die Zwölf. Brutal, ungehemmt, knochenhart. „Teenage Wasteland“ setzte diese Impressionen fort.

Guru + Computer = Soundtüftler

Stimmt alles. Trotzdem wussten eingefleischte Who-Fans mehr, genauso wie die, die sich die Zeit zum Lesen der (englischen! 1971 für viele Nicht-Muttersprachler eine nur schwer überwindbare Hürde) Liner Notes ließen. Dort hatte Pete Townshend die Erklärung geliefert: Der Iraner Meher Baba war Townshends spiritueller Guru, der US-Amerikaner Terry Riley ein Soundtüftler und minimalistischer Komponist, den Townshend wegen seiner Riffs, Keyboard- und Soundeffekte bewunderte. Was würde passieren, wenn man den Geist Babas per Computer zu Musik machen würde? Laut Townshend wäre das dann Baba ganz im Stil von Terry Riley. Baba O’Riley eben.
(Vorsichtshalber noch einmal der Verweis auf den historischen Kontext: Was heute per KI ein möglicherweise reizvolles Experiment wäre, war damals allenfalls Science-Fiction und noch Lichtjahre weit in einer unbekannten Zukunft angesiedelt.)

Eigentlich neue Rockoper

Was Townshend damals nicht verriet: Eigentlich hatte er „Baba O’Riley“ für eine weitere Rockoper à la „Tommy“ konzipiert. Mit „Lifehouse“ stand deren Name bereits fest. Das Projekt scheiterte jedoch. Folglich gab Townshend „Baba O’Riley“ neben einigen anderen für „Who’s Next“ frei. (Trotz des Scheiterns des Projektes arbeitete der Who-Gitarrist weiter an der Umsetzung seiner Ideen, die er – aufgrund der Erfindung des Internets – im großen Stil überarbeitete. Ein entsprechendes Drehbuch zu „Lifehouse“ ist seit 1999 auf Englisch in gedruckter Form bzw. als Graphic Novel verfügbar; im Dezember zeigte die BBC in ihrem dritten Programm eine Filmversion von Townshends Idee.)

Resterampe

Weil nach „Tommy“ und „Live At Leeds“ ein „ganz normales Lebenszeichen“ der Band mehr als überfällig war. Der neue Longplayer wurde von den Fans begeistert aufgenommen, konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Songmaterial „irgendwie zusammengewürfelt“ wirkte. Aber natürlich war das Album mehr als eine Resterampe. Immerhin enthielt es drei spätere Who-Klassiker, nämlich „Behind Blue Eyes“, „Won’t Get Fooled Again“ und eben „Baba O’Riley“. (Die übrigen für Lifehouse komponierten Tracks erschienen 1974 auf „Odds & Sods“ sowie späteren Solo-Alben Townshends.)

Gitarre erst nach 1.40 Min

„Baba O’Riley“ startet für Who-Verhältnisse relativ ruhig. Aber im weiteren Verlauf sind alle Merkmale da, die The Who auszeichnen: Townshend experimentiert am Keyboard – übrigens später derartig künstlerisch aufbereitet, dass es live nicht mehr zu spielen war, sondern aus der Konserve kommt. Enfant terrible Keith Moon treibt mit grollenden Toms und klirrenden Becken wie so oft den Song voran. John Entwistle erdet das Ganze mit seinem kraftvollen Bassspiel. Nach langen 1.40 Minuten wechselt Townshend dann endlich an die Gitarre, der er mit donnernden Riffs einen wilden und beinahe schon bedrohlichen Rocksound entlockt, so dass man vor seinem geistigen Auge sogar Pete Townshends Windmühle nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören meint. Außergewöhnlich ist die keltische Geige ein, die Dave Arbus von „East Of Eden“, im Nachbarstudio beschäftigt und von seinem Kumpel Keith Moon eingeladen, an „Baba O’Riley“ mitzuwirken, mitreißend spielt. (Wer East Of Edens „Jig-A-Jig“ nicht kennt: unbedingt anhören!).

Text am Puls der Zeit

Den Mittelteil von „Baba O’Riley“ singt Pete Townshend. Die Strophen übernimmt Roger Daltrey derartig kraftvoll, dass die verzweifelte Lage der handelnden Personen unter die Haut geht. Der Text trifft den Puls der Zeit, zumindest für Jugendliche, sicher im UK, aber ganz sicher nicht nur dort. Sie hören:

„Hier draußen auf den Feldern kämpfe ich um meine Mahlzeiten.
Ich kämpfe mich zurück in mein Leben.
Ich muss mich nicht prügeln,
um zu beweisen, dass ich im Recht bin.
Nein, ich brauche keine Vergebung.
Weine nicht!
Du musst gar nicht erst schauen:
Es ist nur jugendliche Ödnis.“

Kampf ums Dasein

Schulwissen drängt sich auf: Charles Darwins „Struggle for life“, der Kampf ums Dasein, den man überlebt oder an dem man scheitert. In „Baba O’Riley“ setzt sich dieser Kampf fort. Denn es geht tatsächlich um das nackte Überleben: Tägliche Mahlzeiten sind nicht selbstverständlich. Wer sich ein schönes Leben erhofft hat, ist angesichts der persönlichen Lebensumstände desillusioniert, ist verzweifelt und sieht keine Hoffnung mehr. Die geschilderte Situation ist mehr als trostlos.

Vertrauen in eine bessere Zukunft

Doch wie kaum eine andere Formation der „alten Helden“ stehen The Who nicht nur für die Rebellion gegen unzumutbare Lebensumstände. Die Band wird nicht müde, immer wieder zu Kämpfen für eine Verbesserung der Lebensumstände und eine hoffentlich bessere Zukunft einzutreten. In „Baba O’Riley“ hört sich das so an:

„Sally, nimm meine Hand.
Wir reisen durchs Land immer nach Süden.
Mach das Feuer aus
und sieh nicht über meine Schulter zurück.
Der Exodus ist da,
die Glücklichen sind nah.
Jugendliches Ödland
Sie sind alle nur verschwendet.“

Wo Menschen sich zusammenfinden,…

Sally – das ist die Frau des Farmers Ray, die sich Pete Townshend für „Lifehouse“ ausgedacht hatte. Beide führen ein karges Leben auf einer abgelegenen Farm in Schottland. Ihre Tochter Mary ist durchgebrannt, weil sie von einem Rockkonzert im Süden gehört hat, dass angeblich die Menschen und daraus resultierend ihre Lebensumstände verändert. Der Subtext ist deutlich: Dort, wo sich Menschen – wie eben beim Rockkonzert – zusammenfinden, ist es möglich, Grenzen, Schwierigkeiten und Hindernisse zu überwinden. Dies gilt auch für Ray und Sally, die gemeinsam in den Süden aufbrechen wollen, um zu einem besseren Leben zu gelangen.

Entsetzen über Müllberge

Auch wenn Townshend ein Flüchtlingsszenario, wie wir es heute kennen, kaum im Sinn hatte, ist „Baba O’Riley“ auf erstaunliche, aber auch erschreckende Weise aktuell: Nach dem Auftritt von The Who beim 1969er Isle Of Wight-Festival – in einem Interview zog Townshend eine Parallele zum Woodstock Festival – war Who-Gitarrist darüber entsetzt, dass das Festivalgelände sowie angrenzende Wiesen und Felder mit Müll übersät waren. Für „Lifehouse“ hatte er zudem seine Sorge vor einer autokratischen Regierung Ausdruck verliehen, die die Nöte der Menschen lediglich durch Technik verwaltet, aber nichts dagegen unternimmt, unzumutbare Zustände zu beseitigen.

Townshend und die Religion: Musik als direkter Weg zu Gott

Die Idee, dass Musik Menschen verändert, hatte Townshend beim indischen Musikwissenschaftler Inayat Khan gefunden: Der beschrieb Musik als den direktesten Weg zu Gott – eine Idee, die aus den Schriften des Kirchenvaters Augustinus seit dem 4. Jahrhundert auch im Christentum bekannt ist: Ein Teil seiner Lehren wird gerne unter dem Satz zusammengefasst: „Wer singt, betet doppelt“. Townshend erlebte bei etlichen Konzerten, wie er z.B. durch sein Gitarrenspiel, allein schon durch seine symbolträchtige „Windmühle“ Einfluss auf die Fans nehmen konnte. Der Macht, die er durch seine Musik über sein Publikum ausüben konnte, war er sich bewusst.

Flucht und neuer Anfang

In „Baba O’Riley“ kombiniert er diese Gedanken mit weiteren biblischen Inhalten: Einer persönlichen Lebenssituation dadurch zu entgehen, dass man sein Land verlässt, gehört zu den typischen Flucht- und Neuanfangsgeschichten der Bibel: Abraham verlässt das babylonische Ur und lässt sich in Kanaan nieder; durch den Verrat seiner Brüder an Joseph gelangt ein Teil des israelitischen Volkes nach Ägypten, wo man sorglos leben kann. Erst als sich die politische Situation in Ägypten verändert, kommt es zum sogenannten Exodus, als dem „Auszug“ Volkes Israel aus Ägypten und zur euphemistisch „Landnahme“ benannten Einwanderung in das spätere Palästina. Das Exodus-Motiv findet sich übrigens auch bei Bob Marley: Als musikalisches Sprachrohr des Rastafarianismus geht auch Marley zeitlebens davon aus, dass die Nachfahren ehemals aus Afrika verschleppter Sklaven eines Tages zurückkehren werden nach Afrika, dem gelobten – d.h. von Gott zugedachten – Land.

Die „Happy Ones“

Wesentlich ist dabei, dass eine Gruppe von Menschen, bei Townshend die „Happy Ones“, die Glücklichen, sich zusammenschließen und ihre Hoffnung leben. Dieses Vorhaben kann und darf man nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben, sondern muss es jetzt anpacken. Ansonsten vergeudet man untätig seine Lebenszeit. Oder wie es im Song heißt:

„Lasst uns zusammenkommen, bevor wir viel älter werden.
Sonst ist alles nur verschwendet!“

Vertane Chance und Pearl Jam

„Wir befürchten, dass wir tatsächlich eine Chance vertan haben“, sagte Townshend später rückblickend auf die Entstehung von „Baba O’Riley“. Und: Er habe oft gespürt, dass sein Publikum eine spirituelle Komponente erwartete. Wohl deshalb enthält der Song die eindringliche Aufforderung, sein Leben selbst aktiv zu gestalten. Musik wird dabei zum Medium, um Gleichgesinnte zu einer Gruppe zusammenzuführen und in dieser Gemeinschaft nicht nur existenzielle, sondern auch universelle Fragen zu besprechen. Und auch wenn es pathetisch klingt, dürfte es im Sinne Townshends sein, dass „Baba O’Riley“ (und viele andere Songs von The Who) eine Einladung dazu sind, eine kollektive Reise anzutreten in eine bessere Welt. Eine Welt, die Umweltzerstörung und die Flüchtlingsproblematik hinter sich lässt. Vielleicht spielen auch deshalb Pearl Jam bei ihren Konzerten immer wieder diesen Klassiker von Pete Townshend und The Who: „Baba O’Riley.

Reste von „Lifehouse“

Nachsatz: Wie schwer sich Townshend mit „Lifehouse“ und auch „Baba O‘Riley“ tat, zeigt die Entstehungsgeschichte des Songs: Ursprünglich hatte Townshend ein neun Minuten langes Demo aufgenommen, dass die Band rekonstruierte. Dabei wuchs sich der Song allerdings auf ein 30minütiges Mammutwerk aus, die anschließend mühsam auf fünf Minuten heruntergekürzt wurde. Auch der Rest blieb der Nachwelt erhalten: Pete Townshend veröffentlichte sie als „Baba M1 (O’Riley 1st Movement 1971)“ und „Baba M2 (2nd Movement Part 1 1971) auf der imposanten sechs-CD-Box mit dem Titel „Lifehouse Chronicles“. Hier sind auch zwei lange Versionen (mit 7.44 bzw. 9.34 Min) sowie eine Instrumentalausgabe von „Baba O’Riley“ enthalten.

Chartserfolg erst in 2012

Obwohl „Baba O’Riley“ von Anfang an ein Publikumsliebling war, veröffentlichte die Band den Song weder in den USA, noch im UK als Single. Die gab es im Oktober 1971 lediglich in Europa, auf der Rückseite „My Wife“, ebenfalls vom „Who’s Next“-Album. Dementsprechend ließ der Charterfolg im UK lange auf sich warten. Erst nachdem The Who im Jahr 2012 – aus nachvollziehbaren Gründen ohne Keith Moon und John Entwistle – „Baba O’Riley“ bei der Abschlussveranstaltung der Olympischen Sommerspiele in London intoniert hatten, gelangte der Song dank Downloadzählungen dann doch in die Charts. Über 40 Jahre nach der Veröffentlichung schaffte er es gerade einmal für eine Woche auf Platz 55 der UK-Charts.

The Who – „Baba O’Riley“

Der bei Classic Rock Radio gesendete Beitrag ist eine Kurzfassung dieses Textes.


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